Petra Flemming

Textsammlung

Textbeiträge unterschiedlicher Autoren zur Künstlerin und ihrem Werk

Dieter Gleisberg
„ICH WOLLTE IMMER
DEN GROSSEN ATEM HABEN“

„Ich wollte immer den großen Atem haben“
Zum Werk von Petra Flemming (1944-1988)*
Dr. Dieter Gleisberg

„Und dann muss ich immer an die vielen echten Talente denken, welche vor der Zeit zugrunde gegangen; was hätten diese hervorbringen können, wenn es ihnen vergönnt gewesen, etwas länger zu leben.“ Wie in trotziger Selbstermutigung fügte Petra Flemming diesem Eintrag in ihr Tagebuch hinzu: „Nein, nein – ich kann vor den vielen Jahren eines Menschen nicht in die Knie gehen – wie sie gefüllt sind, ist entscheidend.“ War es Vorahnen des eigenen Schicksals? Vom Sterben ist in ihren Aufzeichnungen oft die Rede. Und als ihr der Tod den Pinsel aus der Hand nahm, zählte sie erst 44 Jahre.
Jäh wurde sie herausgerissen mitten aus der Arbeit am mehrteiligen Wandbild für eine Schule in Arnstadt. Diese trug damals den der Künstlerin fast heiligen Namen der Käthe Kollwitz. Als wäre er ein Makel, wurde er inzwischen abgestreift: Die Schule heißt nun nach dem Märchensammler Ludwig Bechstein. Da war dann nach einem Umbau auch kein Bedarf und Platz mehr für die bereits fertigen Teile von Petra Flemmings Auftragswerk. Der Vorgang wiederholte sich bei ihren Wandgemälden in der ehemaligen Nikolai­oberschule in Leipzig. Auch das Außenbild am Eingang der einst nach Friedrich Engels benannten Brückenschule in Aschara fiel Gebäudesanierern zum Opfer. Der Verdacht einer Damnatio memoriae läßt sich nur schwer verdrängen.
„Weitergearbeitet in linker Wand. Blau eingebracht. Will heute noch rechte Wand beginnen“, lauten die letzten Arbeitsnotizen der Künstlerin am 22. August 1988, ihrem Sterbetag. Die Tragik des vorzeitigen Todes teilt sie mit vielen Frühvollendeten der Kulturgeschichte – von Raffael bis Mozart, von Georg Büchner bis Franz Marc. Nahe ging ihr besonders das Schicksal der Male­rin Paula Modersohn-Becker, die nach einer Geburt 1907 einunddreißigjährig verstarb. Petra Flemming muss sie, bei allen Unterschieden, als Schwester im Geiste empfunden haben. Verwandt war sie der Worpswederin auch im Bemühen, in Eigenbildnissen sich ihrer selbst zu vergewissern, Antwort suchend auf die bohrende Frage: Wer bin ich? Es ist, im Zweisinn des Wortes, das von sich selbst gemachte Bild im Wandel der Jahre und Emotionen, aufrichtig und konsequent, meist grüblerisch, selten glückstrahlend. Auch Käthe Kollwitz prüfte sich ihr Leben lang in Selbstwiedergaben, ganz zu schweigen vom manischen Drang zur Selbstdarstellung bei Künstlern wie Max Beckmann, Otto Dix oder Horst Janssen. Sogar Dichter haben sich ab und an in Versen porträtiert, Rainer Maria Rilke, Heiner Müller oder, Petra Flemming zeit- und räumlich näher, der Leipziger Helmut Richter.
Zunehmend wurden ihre Selbstbildnisse ernster, herber, uneitler. Innere Konflikte und Krisen sind ebenso zu spüren wie der Wille, sich weder verbiegen noch vereinnahmen zu lassen. Diese Bildgeständnisse gewähren tiefe Einblicke in ein leidenschaftliches Fühlen und Denken. Am schonungslosesten und von jedem Selbstgefallen am weitesten entfernt ist das im 35. Lebensjahr entstandene Zeugnis rigoroser Eigenbefragung. Ein vorangegangenes Aquarell hatte ihr Aussehen bereits auf von allem Beiwerk befreite Grundformen verknappt. In strenger Reduktion verlieh dann die Gemäldeversion dem Brustbild ikonenhafte Frontalität, freilich unverklärt, eher verstörend, doch erfüllt von ergreifender Menschlichkeit. Vor blutrotem Hintergrund ähnelt das Gesicht mit straffem Scheitel, schmallippigem Mund und geröteten Augen, deren Blick sich mehr nach innen als nach außen richtet, fast dem Antlitz einer Dolorosa. Es rührt unvergesslich an, ohne rührselig zu sein.
Vermieden war nun die Erzählfreude, womit ihre frühen Bildnisse hinter den Köpfen das jeweilige Lebensumfeld illustrierten. In jenen Jahren des Debüts ließen gemalte oder radierte Reiseerinnerungen ihre Gestalt gern eintauchen in das Menschengewimmel von Moskau oder Prag. Auch in Blättern zu Werner Bräunigs Erzählband „Gewöhnliche Leute“ begegnen ihre individuellen Züge. Ein Tulpenstillleben versteckte ihr Porträt sogar auf einer blanken Stahlkugel – eine Hommage an alte Meister wie Jan van Eyck oder Diego Velázquez, die sich Jahrhunderte zuvor über Spiegel in Bildszenen projiziert hatten.
Damals gehörte Petra Flemming zum Kreis jener aufstrebenden Enthusiasten, die im Rückgriff auf die Neue Sachlichkeit nach Ausdrucksformen suchten, welche ein unverlogenes Bild vom Leben in der DDR, von Hoffnungen und Desillusionen erlaubten – Volker Stelzmann, Wolfgang Peuker, Ulrich Hachulla, mit dem sie einige Jahre liiert war. Alle hatten in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert, wo Lehrer wie Bernhard Heisig, Gerhard Kurt Müller, Wolfgang Mattheuer oder Werner Tübke jenen Aufbruch anführten, der unter dem Schlagwort „Leipziger Schule“ vielbeachtete Furore machte.
Verglichen mit den energischen Vorstößen ihrer Freunde erscheinen Petra Flemmings meist kleinformatige Frühwerke fast scheu und tastend. Doch eines der ersten Gemälde, das aus dieser Befangenheit herausstrebte, zählt zu ihren überraschendsten Schöpfungen überhaupt: das „Selbstbildnis als Akt“. Noch immer in bescheidener Größe, erwachte in den Schwüngen, die den Körper rhythmisch umspannen und in den Kurven von Architektur und Gartenanlage wiederkehren, das Gespür für eine Formsprache, die sich nicht ins Detail verliert, sondern auf Wesentliches konzentriert.
In ungezwungener Zwiesprache mit der eigenen Leib- und Weiblichkeit schilderte sich eine junge, ihrer Nackt- und Schönheit durchaus bewusste, selbstbewusste Frau. Modische Accessoires wie Fingerring und Strohhut, aus dessen Schatten sie dem Betrachter prüfend entgegenblickt, verleihen ihr Frische und Flair des Hier und Heute, ohne zu verbergen, dass ihr kostbarster Schmuck der Charme ihrer Jugend ist.
Lässt sich in diesem Präludium kommender Meis­terschaft schon der beginnende Dialog mit Paula Modersohn-Becker vermuten? War sie es doch, die als erste Künstlerin wagte, sich in einer von prüdem Vorurteil beherrschten Zeit in ihrem „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ nackt auf die Leinwand zu bannen, noch bevor Maler wie Egon Schiele und Richard Gerstl in ekstatischen Selbstwiedergaben die Hüllen fallen ließen. Auch 1969, als sich Petra Flemming in solch intimer Offenheit porträtierte, lagen derartige feminine Selbsterkundungen keineswegs im Trend, obwohl nach Paula Modersohn-Becker Malerinnen wie Suzanne­ Valadon­, Anita Rée oder Maria Lassnig bereits Vergleichbares geschaffen hatten, seit den siebziger Jahren forciert durch Marina Abramovic, deren Performances die Verletzlichkeit von Leib und Seele oft schockierend offenbarten.
Auch Petra Flemming machte schon bald in elementarer Nacktheit schutzloses Ausgeliefertsein sichtbar, am erschütterndsten in einer Gruppe entblößter Frauenleiber „Vor der Gaskammer“. Beklommen, halb in sich verkrochen im Erkennen des unaufhaltsamen Versiegens jugendlicher Anmut, wirkt auch ihre eigene, von jedem Narzissmus freie Nacktwiedergabe mit der Radiernadel von 1981. In markanter Bildgeschlossenheit, doch mit fragendem Blick, verkörperte sie drei Jahre später ihr Abbild im Aquarell „Halbakt mit verschränkten Armen“. Worum ihre Gedanken dabei kreisen mochten, könnte der gleichzeitige, durch identische Maße und Malweise der Selbstschilderung verschwisterte „Halbakt mit überkreuzten Armen“ erhellen, ein fiktives Aktporträt von Anne Frank in derselben Schutz suchenden Gebärde wie in dem etwas früheren Gedenkbild an das Schicksal der durch ihr Tagebuch weltbekannten Jüdin. Fünfzehnjährig fiel diese wenige Wochen vor Ende des Zweiten Weltkrieges dem Holocaust zum Opfer.
Eindringlich erfasst das Gemälde die Seelennot, aber auch frühreife Seelengröße der in einem Amsterdamer Hinterhaus Versteckten vor ihrer Deportation – eines der besten Mahnbilder der Künstlerin an durchlittene Martyrien nicht nur unter dem Hakenkreuz. Der schattenhaft tastende Farbauftrag deutet das bevorstehende Verlöschen dieses noch kaum gelebten Menschenlebens ebenso an wie das bedrängende Dachgebälk die Zwangslage der Dargestellten, die wie eine Kassandra ihr grausames Schicksal vorhersieht.
Fortan bevorzugte Petra Flemming diesen aquarellhaft dünnen Duktus. Er hebt sich deutlich ab von der in langwierigen Prozessen verdichteten Malweise Gerhard Kurt Müllers, ihrem Lebenspartner seit 1974. Gleichwohl verdankt sie der kompakten, aus reicher Lebens- und Kunsterfahrung gewonnenen Bildsprache des knapp zwei Jahrzehnte Älteren kräftige Impulse, ohne jemals ihren starken Eigenwillen preiszugeben. Im Austausch mit Müller, dem Vater ihrer beiden Kinder, gelangte zum Durchbruch, was in ihr längst gärte: das Streben nach der großzügig geballten Form. Daher konnte ihr auch Giottos strenger Formsinn zur Offenbarung werden. „Ich wollte immer den großen Atem haben“, gestand sie 1982.
Den hatte sie bereits 1974 bewiesen, noch im Rahmen eines schmalen Tafelbildes, im Gemälde „Trauer im September“, ihrer sehr persönlichen Antwort auf den verhängnisvollen Putsch des chilenischen Diktators Pinochet. Frei von plakativer Vordergründigkeit, verlieh dieses von tiefem Mitgefühl durchglühte Requiem den überlieferten Sakralbildern der Beweinung Christi einen Zeitbezug von hoher Gültigkeit. Ein Hauch von Mystik schwebt darüber, erfüllt von der düsteren Majes­tät des Todes. Es war der Auftakt zur Vielzahl ihrer Werke, die sich beharrlich, in der Regel ohne Auftrag, mit Unrecht und brutalem Terror auseinandersetzten.
Unverkennbar griff auch das Memento „Ausch­witz“ auf das reiche Erbe der christlichen Ikono­grafie zurück. Denn wie eine Schutzmantelmadonna breitet eine nonnenartige Samariterin ihr Gewand um eine Schar verängstigter Kinder, deren Gesichter schon verbleichen. Greifzangen ähnlich, vor denen es kein Entrinnen gibt, ragen darüber die Pfosten der Elektrozäune gespenstisch in den von Gifthauch verfärbten Himmel.
Solche Bilder formten Petra Flemming zur unbeirrbaren Anwältin des Unvergessens. Besonders in nun häufig überlebensgroßen Memorialporträts hielt sie das Gedächtnis an charismatische Vorbilder wach, die sich dem Fluch von blindwütigem Hass und erbarmenloser Barbarei entgegenstellten oder durch ihr Werk und Wirken beitrugen, das Banner von Freiheit und Menschenwürde nicht in den Staub sinken zu lassen. Diese Ahnenreihe der Bewunderten reicht von Anne Frank bis zu dem Publizisten Carl von Ossietzky, vom Schauspieler Ernst Busch bis zur Chansonette Edith Piaf, von der Schriftstellerin Anna Seghers bis zum Urwaldarzt Albert Schweitzer, von der Linkssozialistin Rosa Luxemburg bis zu dem sowjetischen Reformpolitiker Michail Gorbatschow.
Dass ihre Leitsterne Käthe Kollwitz und Paula Modersohn-Becker nicht fehlen durften, lag auf der Hand. Sie ehrte die Frühexpressionistin auch im vielfigurigen „Barkenhoff-Bild (Worpsweder Gesellschaft)“, das die Gründer der legendären Künstlerkolonie vereint, die auch Rainer Maria Rilke eine Zeitlang anzog. Und in leuchtenden Farben verbindet das symmetrische Gefüge eines großflächigen Aquarells die Vorgängerin mit einer Blumenschale, als bekröne ein Blütenkranz ihr Haupt. Beide Frauen liebten es, Blumen zu malen. Die Leipzigerin griff dabei zurück auf ein früheres Stillleben von Sommerblumen in einem Bürgeler Gefäß mit weiß gepunkteter Blauglasur, die sich wohl nicht zufällig auch in Paula Modersohn-Beckers schönstem Blumenstück wiederfindet, dem Feldblumenstrauß in blauer Vase.
Sogar Pablo Picasso begegnet unter den Sympathieträgern, in deren Psyche Petra Flemming sich tiefdringend versetzte. Sie ließ den Spanier nachdenklich zur Seite blicken, wie von Zweifel verunsichert. Das geschah gewiss im Spiegel ihrer eigenen Betroffenheit angesichts der drohenden Agonie des Staates, in dem sie lebte. Paris, die Hauptstadt der Moderne, wo sie nach vielen Bittgesuchen 1986 an Müllers Seite zwei kurze Wochen weilen durfte, musste daher als Metropole der ersehnten Weltoffenheit ihr Herz im Sturm erobern. Wobei sie keineswegs die Obdachlosen auf den Bänken des Boulevard Haussmann übersah: „Einmal hat sich einer völlig zugedeckt, auch über den Kopf. Es sah aus wie eine Seemannsbestattung. Drumherum tobten zwei Kinder. Eine Litfaßsäule mit bunter Werbung war unmittelbar in der Nähe. Stadt der enormen Kontraste.“
Im Doppelporträt des streitbaren Dichterrebellen Wladimir Majakowski mit seiner Geliebten Lilja Brik steigern sich diese Hommagen zum expressiven Pathos. Er hatte sich 1930 erschossen, wohl nicht zuletzt im Schauder vor dem Verrat der revolutionären Utopien unter dem Diktat von Stalin. Lilja, ebenso attraktiv und geistvoll wie ihre mit Louis Aragon verheiratete Schwester Elsa Triolet, galt als „Muse der Russischen Avantgarde“. „Mit Geschick und Zähigkeit hat sie sich gegen die mannigfachen Versuche der Bonzen gewehrt, aus Majakowski eine offizielle Stuckfigur zu machen“, rühmte Hans Magnus Enzensberger ihr 1978 nach. „Sie hatte Charme, und sie war unbestechlich: in den Augen der Welt waren das zwei unverzeihliche Fehler.“
Kaum weniger packend wirkt das großflächige Gemälde „Antifaschistisches Paar“. Dargestellt sind die aufrechten Widerstandskämpfer Hilde und Hans Coppi, die, Mitglieder der „Roten Kapelle“, unter dem Fallbeil starben, Hans im Dezember 1942, Hilde im August 1943 nach Ende der Stillzeit ihres im Zuchthaus zur Welt gebrachten Kindes. Hitler kannte keine Gnade. Vor allem die Briefe beider aus der Todeszelle ergriffen die Malerin bis ins Innerste: „Was haben die letzten Briefe für eine Kraft! Sie erlebte noch voll die Mutterfreuden, immer im Bewusstsein, dass das Leben jeden Tag aus sein kann. Das sind die Helden unserer Tage.“
Hilde Coppis Sohn, der den Namen des Vaters erhielt und heute in Berlin lebt, erwiderte kürzlich den Empfang einer Reproduktion des Bildes mit den bewegenden Worten: „haben Sie vielen Dank für diese Begegnung mit meinen Eltern. Ich konnte Ihnen darauf nicht sofort antworten. Anfangs war ich überrascht von der Formung. Je öfter ich mir das Bild anschaue, desto stärker empfinde ich: Das Paar verbindet eine von innen heraus erwachsende Gemeinsamkeit von Zuneigung, Liebe, Harmonie. Sie teilen etwas miteinander, die beiden kommunizieren, ihr Füreinander in dem Spannungsbogen zur allgegenwärtigen Bedrohung. Der Schmerz der Frau scheint größer zu sein. Ja, sie ist älter. Der Mann schaut so glücklich. Sie hatten für eine kurze Zeit ihr Glück gefunden. Darüber in ihren Briefen aus dem Gefängnis zu lesen und dies auf dem Bild zu sehen, hat für mich etwas zunehmend Tröstliches. Petra Flemming hat meine Eltern aus ihrem (wunden?) Herzen gemalt. Auch dies berührt mich. Fritz Duda, der so schöne Blumenstillleben hinterließ, hat meinen Vater vor einem Funkgerät sitzend und meine Mutter besorgt hinter der Gardine stehend und auf die Straße schauend gemalt. Dies ist aber eine andere Botschaft.“
Aus einer Hochschule hervorgegangen, die den Dienst am Buch bereits in ihrem Namen führt, schuf Petra Flemming bemerkenswerte grafische Blätter zu Werken von Weltliteraten wie Iwan Bunin, Ödön von Horváth, Thomas Mann oder Herman Melville. Doch kein zweiter Autor wurde ihr über Jahre hinweg so sehr zum geistigen Vertrauten wie der geniale Andalusier Federico García Lorca, auch er im Alter von nur 38 Jahren ein Opfer des Faschismus: Francos Falangisten ermordeten ihn gleich zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges 1936. Ihn hat sich die Künstlerin ebenfalls in wiederholten Bildnissen vergegenwärtigt. Vor allem aber wurde sie seiner Dichtung zur einfühlsamen Interpretin.
Seit dem Studium diente ihr die Radierkunst als bewährtes Medium. Doch dann begann sie ab 1973 in Holz zu schneiden, um auch in ihrer Grafik alles zaghaft Kleinteilige zu überwinden. In dieser Technik entstanden die ersten Versuche zu García Lorca, denen von 1976 bis 1978 Meisterblätter folgten, die in der damaligen Blütezeit der Leipziger Druckgrafik ganz eigene Akzente setzten. Es sind keine Illustrationen, sondern freie Reflexionen, assoziativ geboren aus tiefem Verinnerlichen der heißblütigen Verse des Verehrten, immer gelesen im Wissen um sein bitteres Ende.
Auf den Metaphernreichtum und die Wortgewalt des Dichters in Sammelbänden wie seinem „Romancero gitano“ antwortete sie in der kraftvollen Sprache des Schwarzweiß mit suggestiven Bildfindungen, worin visionäre Imagination mit aufwühlender Expression verschmilzt, vehement und dennoch hoch sensibel. Unverkennbar ist der Dialog mit dem deutschen Expressionismus, aber ebenso mit den Holzschnitten ihres Lebensgefährten, wenngleich sich ihre gestischere, an Zwischentönen reiche Schaffensweise von der kategorischen Formstrenge abhebt, die dessen Grafik seit seinem Hinwenden zur Bildhauerei kennzeichnet.
Es sind vor allem Frauengestalten, denen ihre Hingabe gilt, Leidträgerinnen und Klagemütter wie in der „Gasel vom toten Kind“ oder in der „Romanze von der schwarzen Pein“. Kein Anflug von Folklore schwächt das Allgemeingültige der von innerem Aufruhr durchbebten Drucke. Was durchaus im Sinne des Dichters lag. Bescheinigte er doch seinem „Romancero“ ein „Antiflamenco“. „Es gibt in ihm nicht eine einzige kurze Weste, keine Torerotracht, keinen flachen Hut noch eine Schellentrommel; in ihm dienen die Figuren einem tausendjährigen Hintergrund, und es gibt nur noch eine große und dunkle Figur, die Pein, die ins Mark der Knochen und in den Saft der Bäume dringt.“ Es herrsche, unterstrich er ferner, eine dramatisch geladene Atmosphäre vor, und das poetische Geheimnis sei auch für den Dichter ein Geheimnis, der es vermittele, aber oft nicht kenne.
Auch in der Sprache des Bildes webt stets Unergründliches. Obwohl unmissverständlich im Kerngehalt, lässt sich daher ein Blatt wie die „Zigeunernonne“ mit Worten niemals ausschöpfen. Aber gerade daraus erwächst die Wirksamkeit des wahren Kunstwerks über den Tag hinaus. Zumal jede Generation, ja jeder Einzelne es stets durch das Prisma eigener Prägungen betrachten wird. Man sollte auch die Vorlagen zur Hand nehmen, um zu spüren, wie eigenständig sie Bildgestalt erlangten, Verse wie (aus dem Gedicht „La monja gitana“ in der von der Künstlerin benutzten, allerdings heute umstrittenen Übertragung von Enrique Beck): „Durch der Nonne Augen sprengen?/?im Galopp zwei kühne Reiter.?/?Eine letzte, dumpfe Unruh?/?löst das Hemd ihr von der Brust,?/?und wie sie in starren Fernen?/?Wolken anblickt und Gebirge,?/?bricht das Herz ihr – Herz aus Zucker?/?und Luisenkraut – entzwei.“
Neben einer Reihe Handzeichnungen, darunter zu dem dunklen Drama „Bernarda Albas Haus“, widmete Petra Flemming dem Spanier schließlich noch vier Lithografien im anspruchsvollen Großformat. 1982 entstanden, haben sie an hieroglyphischer Kraft und Klarheit merklich gewonnen, ohne in Einschichtigkeit zu verflachen. Wie eine Erdgöttin beherrscht die „Schlafende Zigeunerin“ in geraffter, aber nirgends verhärteter Formgabe die Bildfläche. Der kühne Konturschwung vom Kopf bis zu den Füßen findet im gewölbten Horizontrücken ebenso sein Echo wie das Stachelgebüsch in den Falten des Gewandes. Dieses lässt den Oberkörper unbedeckt, doch wird eine Spur Erotik vom Eindruck des Ungeschütztseins deutlich überlagert. Bei ihr sei „immer auch Härte und Schmerz der Schönheit beigemischt“, gestand die Künstlerin in einem aufschlussreichen Briefbekenntnis.
Wie souverän ist auch das alte Motiv vom Mädchen, dem der Tod zu nahe tritt, neu gesehen und umgesetzt! In solchen Werken hallen durchaus subjektive Anfechtungen und Depressionen wider. Konnte Petra Flemming im Entstehungsjahr dieses Steindruckes ihrem Tagebuch doch anvertrauen: „Vielleicht verliere ich eines Tages die Nerven und hänge mich auf. Ich denke in letzter Zeit öfter an diese letzte aller Möglichkeiten; erst waren mir die Gedanken an derlei fremd, allmählich werden sie mir vertrauter.“
Belastet hat sie zweifellos der für viele Künstlerfrauen schwierige Spagat zwischen Haushalt samt Mutterpflicht und dem Verlangen nach Freiraum für ihr kreatives Schaffen, zwischen Partnerschaft mit einem überragenden Gestalter und Abstandfinden für ihre eigene Selbstverwirklichung, zwischen hohem Anspruch an die Kunst und den Hindernissen, ihm gerecht zu werden. Dem „Ich wollte immer den großen Atem haben“ folgt die durch ihr künstlerisches Vermächtnis weithin widerlegte Klage, „stattdessen krepele ich ewig im Parterre rum – es ist, wie wenn ich verdammt wäre, immer wieder (aus welchen Gründen auch immer) zurückgeworfen zu werden. Mit größter Mühe erhole ich mich wieder, oder versuche es zumindest, von Rückschlägen. Aus solchen Situationen gehe ich aber nie gesünder heraus – ich fühle mich jedesmal schwächer.“
Zunehmend litt sie auch an den wachsenden Widersprüchen in der DDR. Davon zeugt das Bildgleichnis „Wohin?“, das einer realen Verkehrssituation eine beklemmende Zeitmetapher abgewinnt: Am Ende einer Straße mutiert eine Autowerkstatt mit aufgehängtem Reifen zur Kapelle mit Totenkranz. Davor machen verwirrende Verkehrspfeile die Ungewissheit sichtbar, ob der Ausweg aus dieser Sackgasse, falls es ihn noch gibt, nach rechts oder links driften wird, nach West oder Ost. Es ist, als verleihe diese Verfahrenheit dem biblischen „Quo vadis?“ einen aktuellen Sinn oder vielmehr Hintersinn – als Sinnbild existentieller Ratlosigkeit und Stagnation. Kein zweites von Petra Flemmings zahlreichen Stadt- und Straßenbildern erscheint in seiner Menschenleere derart trist und gottverlassen. Kahl geholzte Baumkrüppel am Straßenrand verstärken nur noch dieses lähmende Gefühl.
Heillose Verworrenheit beschwört auch der Holzschnitt zu Majakowskis sarkastischem Gedicht „Die auf Sitzungen Versessenen“. Die Vision des Dichters von den Apparatschiks, die sich buchstäblich zerteilen, um ihrem Sitzungswahn zur selben Stunde an mehreren Orten zu frönen, wird beim Wort genommen: Aktenbewaffnet, von Schriftpfeilen gesteuert, strömen die Körperhälften gegenläufig zur „?????????“. Majakowskis Pamphlet war 1987 noch so aktuell wie 1922, als er es voll Ingrimm niederschrieb. Es endet mit dem Stoßseufzer: „O Leute,?/?beruft nur noch?/?eine Sitzung –?/?zum Zweck: alle Sitzungen auszumerzen!“
Diese gallige Persiflage offenbart die erstaunliche Spannweite von Petra Flemmings Wahrnehmung und Repertoire. Dass sie auch eine Ader für Witz und Aberwitz im Alltag der kleinen Leute hatte, beweisen zahlreiche Humoresken und Grotesken, die sie in den achtziger Jahren radierte, teils auch in Holz schnitt. Diese skurrilen Szenen spielen sich meist auf dem Lande ab, wo die Künstlerfamilie zeitweilig ein Refugium erhoffte vor Lärm und Hast der Großstadt: Zuerst in Posterstein bei Ronneburg im Schatten nicht nur einer mittelalterlichen Burg, sondern auch gigantischer Wismuthalden, die einen baldigen Umzug in ein ehemaliges Lehrerhaus in Friedrichsdorf unweit von Erfurt nahe legten. Erst 1985 erfolgte die Rückkehr nach Leipzig.
Es sind grafische Glossen voller Esprit und Ironie, drall und drastisch, eingefangen voller Freude an Farce mit Tiefgang und Genre ohne Schminke. Ungeniert geben sich die quicklebendigen Gestalten ihren Lüsten und Launen, Schrullen und Schwächen hin, immer bereit zu deftigem­ Vergnügen, weder gefeit gegen Trunk noch Stunk, handfeste Kerle und stämmige Weiber, lautstarke Fans mit Fähnchen und Tuten, allzu flotte, feuchtfröhliche Sargträger, auch Künstlerkollegen, die einander wenig wohlgesonnen sind – ein bizarres Völkchen ebenso banaler wie vitaler Antihelden, erfasst mit sprödem, doch treffsicherem Strich. Anschaulich wie Bilder eines Bänkelsängers, berichten diese Anekdoten von Schlachtfest, Obstraub in Nachbars Garten, Besprechen der Wetterlage, Hochzeit, Kirmes, Seniorenball oder Himmelschau im Wanderschritt. Häme ist trotz aller Seitenhiebe weniger im Spiel, eher die Bereitschaft zu einem Gelächter, das befreit, getreu der Sentenz des römischen Komödienschreibers Terenz: „Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.“
Doch schlagartig gewinnt die Polemik an Schärfe und politischem Profil, wenn sich über die Peinlichkeiten einer Staatsjagd à la Erich Honecker unversöhnliches Gespött ergießt. Nicht zuletzt entlud sich der Groll der Künstlerin 1985 über die Kläglichkeit einer selbstgewissen Jury. Ihr struppiger Wortführer, der, eine Anspielung auf Jesus beim Abendmahl, die Tisch- und Bildmitte innehat, hebt unter dem Konterfei des Allerobersten anmaßend den Zeigefinger, um sein Gegenüber, mithin den Bildbetrachter, in die Schranken zu weisen, vermutlich im Namen der Partei, die vorgab, immer recht zu haben.
Solche Karikaturen entstanden neben den großartigen Gemälden, mit denen Petra Flemming Dorfbewohnern verständnisvolle Sympathie bekundete, Handwerkern wie dem alten Korbmacher, dem auch ein Diptychon mit seiner Frau Bildwürde in Ganzfigur verleiht, oder dem jungen Zimmermann, einem Zwilling des resoluten Hannes Balla aus Erik Neutschs (von Frank Beyer verfilmten) Roman „Spur der Steine“. Auch die Dreiergruppe von Brustbildern eines Obstbauern, einer Holzsammlerin und eines Bauern vor dem Scheunentor setzte vor Ort erlebten Personen überzeugende Denkmäler. Die Dargestellten tauchen wieder auf in dem Meisterwerk „Die Wildgänse kommen“. Drollig nur auf den ersten Blick, erfüllt diese vom Leben kaum verwöhnten Landleute eine innere Wahrhaftigkeit, die sie, wie einst bei Pieter Brueghel, weit über belustigende Volkstypen hinaus zu Schicksalsträgern erhebt, die trotz allem Schweren, was hinter ihnen liegen mag, das Staunen nicht verlernten. Jenes Erstaunen, das Goethe im Gespräch mit Eckermann das Höchste nannte, wozu der Mensch gelangen kann. Das Kommen der Wildgänse, die nach ihren nordischen Brutstätten weiterfliegen werden, gilt als Vorbote des Frühlings.
Schon 1979 gelang der Malerin im „Mann mit Schafen“ ein beeindruckendes Gemälde aus dem ländlichen Milieu. Ein alter Bauer strebt mit zwei Wolltieren auf eine Unterführung zu, befindet sich aber noch wie abwartend ganz vorn: Symbolträchtig steht mit ihm der Mensch im Vordergrund. Als Rückenfigur lenkt er den Blick ins Bild hinein auf jenen steilen Bogen zu, der ihn wie eine Mandorla oder Muschel umschließt und dadurch zusätzlich hervorhebt. Harmonisch wiederholt sich diese Rundung überall in dem spiegelbildlich geordneten Werk. Optisch scheint der enge Tunnel keinen Durchgang zuzulassen. Doch über den Schultern tut sich ein Lichtblick auf: Der Mann wird seinen Weg finden wie seit Jahr und Tag, schlicht und in der natürlichen Verbundenheit mit Feld und Tier, die ihm noch selbstverständlich ist.
Petra Flemming hatte diese Dammdurchfahrt schon 1977 dargestellt und sich damit ein Motiv erschlossen, das in ihrer Bildwelt eine außergewöhnliche Rolle spielen sollte: die Brücke. Konstant erscheint dieses außer in der Malerei vor allem in ihrer Zeichenkunst, der sie immer höheren Stellen- und Eigenwert einräumte, weit über die bloße Skizze und Vorarbeit hinaus. Der in jungen Jahren gern gewählte spitze Bleistift wich im Laufe ihres Werdegangs der Zeichenkreide, die einen vibrierenden, gleichsam atmenden Strich erlaubt. Der Prozess der Bildgeburt bleibt dabei immer nachvollziehbar.
Eine Vorliebe für Brücken kennzeichnet vor allem ihre zahlreichen Stadtbilder, keine topografischen Veduten, vielmehr in kreativer Freiheit erfasste Stadtlandschaften, meist ohne Staffage. Gemeinsam ist all den in Leipzig, Berlin oder Paris entdeckten Brücken, was ihrem Zweck und Wesen entspringt: das Verbinden einander gegenüber liegender Ufer, Wege, Gebiete oder Anlagen. Weil die Brücke den Zugang von beiden Seiten in sich vereint, wurde sie zum Sinnbild für das Überbrücken von Teilungen und Gegensätzen: Wo sich, in übertragener Bedeutung, Brücken spannen, entspannen sich Konfrontationen.
Petra Flemming war diese Symbolkraft sicher bewusst, auch wenn sie nur unterschwellig anklingt. Meist folgen ihre Brückenbilder klaren Grundsätzen: Die bildparallele Wiedergabe gehorcht fast ohne Ausnahme dem Gesetz der Symmetrie. Fern von nüchternem Konstruktivismus mit freier Hand zu Papier gebracht, neigen selbst die Geraden zu sphärischen Krümmungen, was sie Organismen anzunähern scheint. So steuert ein Berliner Lastkahn wie ein Meeresgroßtier genau in der Bildmitte auf eine Brücke zu. In einer Pariser Stadtansicht hat sich die Brücke sogar verdoppelt: Vom eisernen Pont des Arts, der zum Louvre führt und 1986 noch von Liebesschlössern verschont war, gleitet das Auge über die Seine zur Ostspitze der Île de la Cité mit dem ehrwürdigen Pont Neuf, der beide Flussarme überquert. Der hinreißende Anblick war der Künstlerin auch ein Gemälde wert.
Diese gleichnishafte Symmetrie könnte verstanden werden als subjektive Reaktion auf den „Verlust der Mitte“, den einst Hans Sedlmayr der Moderne vorgeworfen hatte. Das Streben nach Ebenmaß kennzeichnet den „Mann mit Schafen“ ebenso wie das Aquarellbildnis der Paula Modersohn oder die meisten Blumenstücke der Malerin. Doch das Betonen der Bildmitte entspringt keineswegs nur dem Drang nach Ausgleich oder gar der Sehnsucht nach Harmonie ohne Harm und Widerspruch. Denn auch Werke wie der Holzschnitt „Heimkehrer“ nach einem Gedicht des Russen Michail Lukonin, das Bildnis der Anne Frank oder das Auschwitzbild sind spiegelbildlich angelegt. Sogar das zeitkritische Gemälde „Wohin?“ gehorcht dieser Tendenz. Freilich würde jedes Verschieben der Achsen dessen Aussage sofort entschärfen, den Zwiespalt gleichsam zwischen Skylla und Charybdis.
Das verdeutlicht den substantiellen Zusammenhang zwischen Aufbau und Botschaft der Bilder. Die Bildmitte verleiht seit alters Ehre und Würde. Wenn Petra Flemming sie den todgeweihten Kindern und ihrer mütterlichen Betreuerin zugesteht, gelangt in das Memento ein Moment der Andacht, das den Betrachter in ein Innehalten und Besinnen führt, wie es so nur die Kunst vermag, abgehoben von den dokumentarischen Fotos der Schrecken in den Vernichtungslagern, doch nicht weniger erschütternd. Das Mal-, das Denkmalhafte solcher Bilder ist Zeugnis einer selber denkwürdigen Bereitschaft, vor dem Geschehenen und immer noch Geschehenden nicht die Augen zu verschließen, sondern exemplarisch Stellung zu beziehen im Namen der Menschlichkeit, aber auch der Kunst. So gesehen, bedeutet „Unvergessen!“ nicht nur das Abgelten einer Ehrenpflicht, sondern einen Auftrag, der immer währt und zu erfüllen ist. Petra Flemming hat sich ihm mit ihren Möglichkeiten gestellt, mit unbeirrbarer Entschlossenheit trotz aller Konflikte, die sie erlebte und durchlitt. Das reiht sie, ungeachtet aller Abstände in Rang und Resonanz, selbst ein unter die Vorbilder, deren Andenken sie wachzuhalten suchte. Paula Modersohn-Becker hätte ihr gewiss die Hand gereicht, und sicher auch die große Käthe Kollwitz.


*Quelle: Göpfersdorfer Kunstblätter 9, Katalog zur Ausstellung „UNVERGESSEN! Petra Flemming (1944-1988)“ im Juli 2014, in der Galerie Pferdestall im Quellenhof in Garbisdorf; www.quellen-hof.de.
Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Petra Flemming erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Dr. Dieter Gleisberg und dem E. Reinhold Verlag, Verlagsgruppe Klaus-Jürgen Kamprad, Altenburg. Der Katalog zur Ausstellung kann dort bestellt werden: www.vkjk.de.

Dieter Gleisberg
UNVERGESSEN! - PETRA FLEMMING (1944-1988)

Rede zur Eröffnung der Ausstellung:
UNVERGESSEN! Petra Flemming (1944-1988)
in der Galerie Pferdestall im Quellenhof Garbisdorf am 4. Juli 2014*
Dr. Dieter Gleisberg

„Wenn dereinst ich sterbe,
dann begrabt mich, wenn ihr wollt,
in einer Wetterfahne.
Wenn dereinst ich sterbe!“

So endet das Gedicht „Memento“ des Spaniers Federico García Lorca, dessen Lyrik Petra Flemming leidenschaftlich bewunderte und in ihre Sprache übertrug – die Sprache der Kunst, einer überaus persönlichen, ebenso feinfühligen wie kraftvollen, fast möchte man sagen mannhaften Kunst, die dennoch ganz und gar aus den Herzen und Schmerzen, den Freuden und dem Erschrecken einer Frau geboren war. Einer, die das Leben liebte und um den Tod wusste, an den sie oft dachte, um ihn hinnehmen zu müssen in der Blüte ihrer Jahre: Sie starb mit 44 Jahren am 22. August 1988. Der Tod riss sie mitten aus der Arbeit an Wandbildern für eine Schule in Arnstadt, die heute nach dem Märchensammler Ludwig Bechstein heißt. Als wäre der Name der Käthe Kollwitz, den sie einmal trug, ein peinlicher Makel. Mit der Umtaufe verschwanden Petra Flemmings Bilder, wie bald darauf auch ihre Wandgemälde für Schulen in Leipzig und Aschera. Kaum verdrängen lässt sich der Verdacht einer Damnatio memoriae, wie im antiken Rom das absichtsvolle Tilgen des Gedenkens hieß.
Zu der schmalen, aber inhaltsreichen Monografie, die er vor zwanzig Jahren seiner Lebensgefährtin postum widmete, schrieb mir damals der große Maler, Bildhauer und Grafiker Gerhard Kurt Müller: „Es war meine Absicht, nochmals an Petra zu erinnern; an eine Frau und Künstlerin, die mit ganzem Einsatz gelebt und gearbeitet hat. Ich wollte etwas tun, bevor ohnehin alles der Vergessenheit anheimfällt. Vielleicht besteht eine kleine Chance, dass etwas bleibt – wie sie es einmal ähnlich formuliert hat. Eine Art Prinzip Hoffnung.“
Tatsächlich war es bald still geworden um die Künstlerin. Sehr zu Unrecht, wie diese Ausstellung eindrucksvoll beweist. Sie stützt sich auf den von ihrem Sohn betreuten Nachlass unter raum- und kostenbedingtem Verzicht auf jene Hauptwerke, die vor allem das Leipziger Bildermuseum bewahrt. Einige davon reproduziert die neue Ausgabe der „Göpfersdorfer Kunstblätter“, welche die Ausstellung begleitet. Ihr Titel „UNVERGESSEN!“ ist Programm. Soll er doch nicht nur an die vor einem Vierteljahrhundert jäh Verstorbene erinnern, sondern ebenso an die zahlreichen Gestalten, deren Schicksale ihre Kunst so bekenntnishaft zu würdigen verstand.
Geboren wurde Petra Flemming fast auf den Tag genau vor 70 Jahren in Großsteinberg. Ihre Heimat aber wurde Leipzig, wo sie aufwuchs und ihre künstlerischen Wurzeln und Wege fand. Das Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst führte sie in den Kreis jener aufstrebenden Enthusiasten, die im Rückgriff auf die Neue Sachlichkeit nach Ausdrucksformen suchten, welche ein unverlogenes Bild vom Leben in der DDR erlaubten – Volker Stelzmann, Wolfgang Peuker, Ulrich Hachulla, mit dem sie einige Jahre liiert war. Verglichen mit den energischen Vorstößen ihrer Künstlerfreunde erscheinen Petra Flemmings miniaturhaften Frühwerke eher scheu und tastend. Erst gegen Ende des dritten Lebensjahrzehnts vollzog ihre Kunst einen Wandel, der, Beiläufiges abstreifend, ihre Bilder zu jener Ausdruckskraft verdichtete, die alle Werke der Garbisdorfer Auswahl kennzeichnet. Petra Flemming verdankte der Begegnung mit der gereiften Persönlichkeit Gerhard Kurt Müllers unverkennbar neue Impulse und Maßstäbe. Doch ohne jede Preisgabe ihres starken Eigenwillens. Im Austausch mit ihm, dem Vater ihrer beiden Kinder, gelangte vielmehr zum Durchbruch, was in ihr längst gärte: das Streben nach der großzügig geballten Form. Daher wurde ihr auch Giottos markanter Formsinn so zur Offenbarung. „Ich wollte immer den großen Atem haben“, gestand sie 1982.
Von Anbeginn hatte sich abgezeichnet, was ihr Werk vor allem prägen sollte: Die Meisterschaft im Menschenbild, obwohl sie sich der Landschaft oder dem Stillleben keineswegs verschloss. Belanglose Bilder, die sich in Formspielen erschöpfen, waren ihre Sache nie. Bei ihr sei „immer auch Härte und Schmerz der Schönheit beigemischt“, gestand sie ein. Durchglüht von hohem Ethos und Anspruch an die Kunst, empfand Petra Flemming, trotz aller Unterschiede in Rang und Resonanz, Vorgängerinnen wie Käthe Kollwitz und Paula Modersohn-Becker als Schwestern im Geiste. Besonders im Porträt ehrte sie voller Fein- und Mitgefühl beispielhafte Charaktere, vom Willen beflügelt, die ihnen oft brutal geraubte Würde und Aura zurückzugeben.
So wurde sie zur Anwältin des Unvergessens. In expressiven Memorialporträts hielt sie das Gedächtnis an charismatische Vorbilder wach, die sich dem Fluch der Barbarei entgegenstellten. Höhepunkte in dieser Ahnenreihe bilden in der Ausstellung die Doppelbildnisse des unter der Stalindiktatur in den Freitod gegangenen Dichterrebellen Wladimir Majakowski mit Lilja Brik, sowie der aufrechten, unter dem Hakenkreuz hingerichteten Antifaschisten Hilde und Hans Coppi, deren Briefe aus der Todeszelle die Malerin bis in das Innerste ergriffen.
Ein Meisterwerk, eines musealen Ehrenplatzes würdig, ist das Gedenkbild an die durch ihr Tagebuch weltbekannte Jüdin Anne Frank. Fünfzehnjährig fiel sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges dem Holocaust zum Opfer. Eindringlich erfasst ist die Seelennot, aber auch die frühreife Seelengröße der in einem Amsterdamer Hinterhaus Versteckten vor ihrer Deportation. Der schattenhaft tastende Farbauftrag deutet das bevorstehende Verlöschen dieses noch kaum gelebten Menschenlebens ebenso an wie das bedrängende Dachgebälk die Zwangslage der Dargestellten, die wie eine Kassandra ihr grausames Schicksal vorhersieht.
Petra Flemming hinterließ zugleich ein umfangreiches druckgrafisches Werk. Seit dem Studium diente ihr die Radierkunst als Medium. Dann begann sie in Holz zu schneiden, um auch in ihrer Grafik alles zaghaft Kleinteilige zu überwinden. In dieser Technik, später im Steindruck, entstanden ihre Meisterblätter zu García Lorca, die in der damaligen Blütezeit der Leipziger Druckgrafik ganz eigene Akzente setzten. Es sind freie Reflexionen, geboren aus tiefem Verinnerlichen der heißblütigen Verse des Verehrten. Immer gelesen im Wissen um sein bitteres Ende: Francos Falangisten ermordeten den Achtunddreißigjährigen gleich zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges.
Auf die Wortgewalt des Dichters antwortete Petra Flemming in der Sprache des Schwarzweiß mit Bildern, worin visionäre Imagination mit aufwühlender Expression verschmelzen, vehement und dennoch hoch sensibel. Unverkennbar ist der Dialog mit dem deutschen Expressionismus, aber ebenso mit den Holzschnitten ihres Lebenspartners, wenngleich sich ihr Duktus von dessen kategorischer Formstrenge unverwechselbar unterscheidet.
Es sind vor allem Frauengestalten, denen ihre Hingabe galt, Leidträgerinnen und Klagemütter. Kein Anflug von Folklore schwächt das Allgemeingültige der von innerem Aufruhr durchbebten Drucke. Dabei besaß Petra Flemming durchaus eine Ader für Witz und Aberwitz im Alltag der kleinen Leute. Das beweisen die Humoresken und Grotesken, die sie in den achtziger Jahren meist wieder mit der Radiernadel festhielt. Diese skurrilen Szenen spielen sich überwiegend auf dem Lande ab, wo die Künstlerfamilie zeitweilig ein Refugium erhoffte vor Lärm und Hast der Großstadt: Zuerst in Posterstein im Schatten nicht nur einer mittelalterlichen Burg, sondern auch gigantischer Wismut-halden, die einen Umzug in ein ehemaliges Lehrerhaus in Friedrichsdorf bei Erfurt nahe legten. Erst 1985 erfolgte die Rückkehr nach Leipzig.
Es sind grafische Glossen voller Esprit und Ironie, drall und drastisch. Ungeniert geben sich die Protagonisten ihren Lüsten und Launen, Schrullen und Schwächen hin – ein bizarres Völkchen ebenso banaler wie vitaler Antihelden, erfasst mit sprödem, doch treffsicherem Strich. Anschaulich berichten diese Anekdoten vom Obstraub in Nachbars Garten, von feuchtfröhlichen Sargträgern oder von der Himmelschau im Wanderschritt.
Petra Flemming konnte also herzhaft lachen. Dennoch quälten sie Selbstzweifel und innere Konflikte. Zunehmend litt sie an den Widersprüchen in der DDR. Das hallte auch in ihrem Schaffen wider, nicht nur in sarkastischen Appellen, sondern auch indirekt in Blumenstillleben, deren spiegelbildliches Ebenmaß ihre Sehnsucht nach Ausgleich und Glück offenbarte als Reaktion auf Wirrsal und Verfall. Sogar das Bildnis der Anne Frank gehorcht ikonenhafter Symmetrie. Die Mitte betont auch ein Motiv, das in ihrer Bildwelt häufig wiederkehrt: die Brücke. Konstant erscheint sie nicht zuletzt in ihrer Zeichenkunst, der die Künstlerin immer höheren Stellen- und Eigenwert einräumte, weit über die bloße Skizze und Vorarbeit hinaus.
Eine Vorliebe für Brücken kennzeichnet vor allem ihre Stadtbilder, keine haargetreuen Veduten, vielmehr großzügig erfasste Stadtlandschaften, meist ohne Staffage. Gemeinsam ist all den Leipziger, Berliner oder Pariser Brücken, was ihrem Zweck und Wesen entspringt: das Verbinden gegenüber liegender Ufer, Wege oder Gebiete. Weil die Brücke den Zugang von beiden Seiten in sich vereint, wurde sie Sinnbild für das Überbrücken von Teilungen und Gegensätzen: Wo sich, in übertragener Bedeutung, Brücken spannen, entspannen sich Konfrontationen.
Petra Flemming war diese Symbolkraft sicher bewusst, auch wenn sie nur unterschwellig anklingt. Und trotz aller bildparallelen Symmetrie neigen in ihren Brückenbildern selbst die geraden Linien wie im Affront wider den Konstruktivismus zu sphärischen Krümmungen, was sie Organismen anzunähern scheint. So steuert ein Berliner Lastkahn wie ein Meeresgroßtier einer Brücke zu. In einer Pariser Stadtansicht hat sich die Brücke verdoppelt: Vom eisernen Pont des Arts, damals noch von Liebesschlössern verschont, gleitet der Blick über die Seine zur Ostspitze der Île de la Cité mit dem Pont Neuf, der beide Flussarme überquert.
Die Bildmitte verleiht seit alters Rang und Ausgewogenheit. Doch bei Petra Flemming entkeimt ihr keineswegs ad hoc von Harm und Elend freie Harmonie. Beklemmend demonstriert das ein Spätwerk der Künstlerin: das vielschichtige Bildgleichnis „Wohin?“, das wie ihr mahnendes Vermächtnis wirkt. Eine reale Verkehrssituation nahe Markranstädt ist zur schockierenden Zeitmetapher umgedeutet: Am Ende der Straße mutiert ein Stromhäuschen mit aufgehängtem Fahrradschlauch zur Kapelle mit Totenkranz. Davor machen verwirrende Verkehrspfeile die Ungewissheit sichtbar, ob der Ausweg aus dieser Sackgasse, falls es ihn noch gibt, nach rechts oder links driften wird, nach West oder Ost. Es ist, als verleihe diese Verfahrenheit dem biblischen „Quo vadis?“ aktuellen Sinn, oder vielmehr Hintersinn – als Sinnbild existentieller Ratlosigkeit und Stagnation, die der DDR so zum Verhängnis wurden. Dabei enthüllt sich auch der innere Zusammenhang zwischen dem symmetrischen Aufbau und der brisanten Botschaft der Bildes. Denn jedes Verschieben der Achsen würde die Aussage sofort entschärfen, den düsteren Zwiespalt gleichsam zwischen Skylla und Charybdis.
Kein zweites von Petra Flemmings Stadt- und Straßenbildern erscheint in seiner Menschenleere derart trist und gottverlassen. Kahl geholzte Baumkrüppel am Straßenrand verstärken dieses lähmende Gefühl. Und mag die Bildaussage auf den ersten Blick noch plakativ erscheinen, offenbart sich umso gespenstischer das Absurde des Geschehens oder vielmehr Nichtgeschehens, sobald man gewahrt, dass sogar die Schatten dieser kahlen Stämme divergieren. Allenfalls könnten Scheinwerfer bei Nacht solchen Spuk hervorrufen, aber es ist Tag, freilich einer ohne helle Sonne. Drückende Schwermut ist im Spiel, das Leiden an Zwängen, aus denen kein Entrinnen sicher scheint.
Gleichzeitig senkt dieser Schattenwidersinn Geheimnis auf das Bildquadrat, jenes Rätsel, das, so García Lorca, auch dem Dichter unerklärlich bleibt – und, sei hinzugefügt, auch jedem Künstler. Aber das macht das Kunstwerk eben erst zum Kunstwerk, poetisch abgehoben von der Faktennüchternheit der Wissenschaft.
Weil es aber jede tagespolitische Direktheit meidet, bewahrheitet und bewährt sich dieses Sinnbild für Lethargie und Irritation weit über die Entstehungszeit hinaus. Machen nicht auch in der Gegenwart die Vorgänge in Afghanistan, in Syrien, in Ägypten, im Irak oder in der Ukraine betroffen, ja zunehmend rat- und fassungslos? Und sind angesichts der Schrecken, die diese Länder Tag für Tag erschüttern, die Tragödien, die Petra Flemming in ihren Bildern zu García Lorca so eindringlich vor Augen stellte, nicht unvermindert aktuell? Wie immer man ihren Werken auch begegnen mag – eines lassen sie nicht: gleichgültig! Das reiht sie unvergesslich ein unter die wachsende Schar von Künstlerinnen, die ihren männlichen Kollegen ebenbürtig und auf Augenhöhe gegenüber und zur Seite stehen! Halten wir deshalb ihr Werk und Wirken fortan stets in den verdienten Ehren! War sie doch trotz allem, woran sie litt in und an ihrer Zeit voller Hoffnung auf einen Wandel. „Denn“, so notierte sie schon 1982 wie eine Prophetin in ihr Tagebuch, „ist der Höhepunkt der Unzufriedenheit der Gehorchenden erreicht, werden sie sich wehren, das Alte ablösen und etwas Neues wird kommen. Eine Reinigung wird stattfinden. Wie das Neue wiederum enden wird, es könnte sein, wie das Vorhergegangene. Aber eine Reinigung, eine Erneuerung wird stattgefunden haben. So, wie das Umgraben im Garten.“ Auch dieses Vorhersehen und -sagen sei ihr unvergessen!

*Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Petra Flemming erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Dr. Dieter Gleisberg, Altenburg. Der Katalog zur Ausstellung kann bestellt werden beim E. Reinhold Verlag, Verlagsgruppe Klaus-Jürgen Kamprad: www.vkjk.de.

Rüdiger Helmboldt
DER ARNSTÄDTER BILDERSTURM...

Der Arnstädter Bildersturm oder wie man sich (un)geliebter Angelegenheiten entledigt

Unveröffentlichter Beitrag für die Thüringer Allgemeine Zeitung vom August 2008
von Dr. Rüdiger Helmboldt Arnstadt.*


Am 22. August 2008 jährt sich zum 20. Male der Todestag der bedeutenden Malerin Petra Flemming. Sie starb 44-jährig bei der Arbeit an einem Wandbild in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, der heutigen Grund- und Regelschule „Ludwig Bechstein“ auf dem Rabenhold.
Was war geschehen? Die Künstlerin, in den 1980er Jahren mit ihrem Mann, dem Bildhauer, Maler und Illustrator Professor Gerhard Kurt Müller in Friedrichsdorf bei Witterda wohnend und arbeitend, hatte wie das zu dieser Zeit üblich war, über den Hauptauftraggeber Baugebundene Kunst beim Rat des Bezirkes Erfurt einen Auftrag zu einem Wandbild erhalten. Die Finanzierung erfolgte aus den gesetzlich verbrieften 0,5% der Bausumme, also aus Geldern der öffentlichen Hand. Die Schule vom Typ „Erfurt“ für das Wohngebiet Rabenhold in Arnstadt war im Werden und sollte zur Aufwertung dessen, was in der Schule gelebt und gelehrt werden sollte, an repräsentativer Stelle ein Wandgemälde humanistischen Inhalts zum Thema „Käthe Kollwitz“ erhalten. Die Schule sollte den Namen dieser wohl bedeutendsten deutschen Künstlerin des 20. Jahrhunderts verliehen bekommen, was lag also näher, als den ehrenvollen Namen mit einem gemäßen Wandbild zu verbinden und auch Zeitgenossen der Kollwitz wie den Bildhauer Ernst Barlach und den Maler Otto Nagel sowie ihren Mann, den Berliner Armenarzt Karl Kollwitz Bild werden zu lassen. Petra Flemming wählte die Lebensmaxime der Kollwitz „Ich will wirken in meiner Zeit!“ als bildkünstlerischen Ausgangspunkt, war doch engagiertes Streben aus humanistischer Grundhaltung heraus auch ein hohes Erziehungsziel für jeden Schüler, der hier einmal ein- und ausgehen würde.
Im August 1988 begann Petra Flemming mit der Anlage des dreiteiligen Wandbildes auf dem für diesen Zweck baulich vorbereiteten wichtigen Mittelfeld zwischen den beiden Haupteingangstüren und den beiden schmaleren Seitentafeln, die im rechten Winkel dazu standen wie bei einem Flügelaltar in einer Kirche.
Am 20. August 1988 schrieb Petra Flemming zu ihrer Arbeit in ihr Tagebuch:
„…Ich habe heute schon vor acht begonnen. Es ist niemand in der Schule und ich nutze die Ungestörtheit. Die Kollwitz-Barlach-Nagel-Wand vorgezeichnet und konturiert. Will heute noch die rechte Wand (mit Ehepaar Kollwitz) aufzeichnen und konturieren. Eventuell mit Farbe beginnen. Mittags habe ich mit dem Hausmeisterpaar Forelle gegessen... Danach von etwa 17.00 – 20.00 in der Kollwitz-Barlach-Nagel-Wand schon Farbe eingesetzt. Fotos gemacht. Für die Ehepaar-Kollwitz-Wand suche ich nach einem Hintergrund. Liege gut in der Zeit. Habe für die beiden Seitenwände noch vier volle Tage. Wobei der Untergrund glatter ist als auf der Mittelwand und die Farbe besser darauf steht. Das Aquarellhafte meiner Technik kommt darauf gut zur Geltung.“
Für den 21.8.1988 notiert sie: „Heute Vormittag nichts gemalt. Im Schloßmuseum gewesen. Sehr provinziell, obwohl renoviert, sieht verstaubt aus. Immer bloß Teilstücke begehbar. Immer was gesperrt. Die Anlage als Ganzes kann man nie erleben. Typisch übrigens für DDR-Museen...Habe noch bis 19.30 Uhr gearbeitet. Es war ziemlich windig und kühl im Schatten. Die linke Wand ist sehr weit. Rechte Wand, Karl Kollwitz und Käthe Kollwitz, brauchte einen Hintergrund, vielleicht einen Garten? Oder eine Berliner Straße mit Brücke?...“
Die letzten Notizen vom 22.8.1988 „Weitergearbeitet in linker Wand. Blau eingebracht. Will heute noch rechte Wand beginnen.“ brechen an dieser Stelle ab.
Petra Flemming stirbt am 22. August 1988 in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. - Sie war beseelt von ihrer Aufgabe, weil sie tief verwurzelt war mit dem Werk von Käthe Kollwitz, Ernst Barlach und Otto Nagel, berührt von der Tätigkeit des Armenarztes Karl Kollwitz in Berlin und überzeugt, ein wichtiges Werk auch im Sinne der Erziehung und Bildung für alle zu schaffen, die einmal durch diese Schultüren ein- und ausgehen werden.
Wer sie kannte, wusste, dass sie nur das malen konnte, was sie tief empfand, was sie als das Ihre betrachtete. Sie war voller Enthusiasmus, sie barg in sich eine geistige und künstlerische Kraft, die man dieser zierlichen Person nicht zutraute. Sie verstand zu kämpfen gegen jegliches Unrecht, gegen jegliche Ungerechtigkeit, gegen Bürokratie, hatte Angst, ihre Pläne, ihre Wünsche nicht mehr ausleben, nicht mehr erleben zu können... Wer sich der Mühe unterzieht, ihr Tagebuch zu lesen, wird zu dem Schluss kommen, dass sie eine der ehrlichen und tätigen Kämpferinnen für soziale Gerechtigkeit, eine echte Widerständlerin war. 1989 erhielt sie postum den Kunstpreis der Stadt Leipzig. Sie zählt nicht nur zu den großen Künstlerinnen-Persönlichkeiten der DDR, sondern auch Deutschlands.
Sie an ihrem Todestag, dem 22. August anlässlich der Wiedereröffnung der Schule, an der sie ihr „Lebenswerk“ im wahrsten Sinne des Wortes vollendete, zu würdigen, hätte uns gut zu Gesicht gestanden. Aber stattdessen wurde mit viel Aufwand (nicht nur bei der Rekonstruktion des Bauwerks) dieses Lehrgebäude als Arnstädter Grund – und Regelschule wiedereröffnet, ohne an die Künstlerin zu erinnern und, was besonders fatal ist, ohne ihr Wandbild.
Die Schule trägt heute den Namen „Ludwig-Bechstein“ (es wäre wohl selbst Ludwig Bechstein schwer gefallen, einen Sinn aus der Umbenennung abzuleiten!).
Die Schule hat durch die Sanierung zweifellos ein schönes neues Inneres und Äußeres erhalten und die Schüler werden diesen Gewinn ganz sicher wahr- und annehmen, aber von nun an auch bewusst oder unbewusst den Makel mit in ihr zukünftiges Leben nehmen müssen, in eine Schule gegangen zu sein, in der sich eine sinnlose Bilderstürmerei vollzogen hat. Petra Flemming wurde nicht nur vergessen, ihr Werk wurde getilgt, beim Umbau als störend empfunden und deshalb beseitigt, das Mittelteil zerstört, die Seitenteile verschämt im Spittel abgestellt, Altarflügel ohne den Hauptteil, Flügel von einem Engel ohne dessen Körper, obwohl ein Konzept der Bennert GmbH Hopfgarten zur Bergung bzw. Umsetzung vorlag. Alle Teile hätten auf dem Pausenhof wieder aufgestellt werden können (siehe Collage von Heidemarie und Rüdiger Helmboldt) für den Fall, dass das Wandbild nicht mehr in die Umbaupläne des Schulgebäudes passen sollten.
Das Ergebnis ist ein betrauernswerter Verlust eines Kunstwerkes und ein skandalöses Kapitel in der Kulturgeschichte unserer Region. Die juristischen Folgen wären für den Ilm-Kreis als Auftraggeber enorm gewesen, wenn die Erben nicht auf einen Prozess verzichtet hätten. Einen Aufschrei hätte es geben müssen, eine Demonstration, wenigstens eine Diskussion, getragen vom Wollen nach einer erträglichen Lösung. Denn nicht das Nicht-Gehen war die Ursache für die Beseitigung des Bildes, sondern das Beseitigen einer Idee, eines Kunstwerkes mit Symbolwert. Der Akt vollzog sich so still, so wenig demokratisch, dass die Öffentlichkeit ihn gar nicht bemerkt hatte oder nicht bemerken wollte?

*Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Petra Flemming erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rita Jorek
Biografien historischer Frauenpersönlichkeiten: Kunst
PETRA FLEMMING

"Vielleicht ist es das letzte Mal", resümiert Petra Flemming 1979 nach einem schönen Weihnachtsfest. Von entschwindender Zeit bedrängt, fürchtet sie, sich nicht vollenden zu können: "[...] und man will doch noch so viel tun, jetzt, wo alles erst anfängt." (Tagebuchnotiz vom 25.12.1979. In: Petra Flemming. 1994, Seite 94)

Nachdem sie 1964-69 das Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst absolviert hatte, gehörte sie zu den damals jungen Leipziger Künstlern, die mit veristischer Verve dem begrenzten DDR-Mikrokosmos den Spiegel eines herben Realismus entgegenhielten. Vom Konkreten strebte sie zum Allgemeingültigen im Gegenständlichen. Für die Not des Lebens, für das Betroffensein von den Alltags- und den Weltereignissen fand sie ihren spröden poetischen, archaischen Ausdrucksstil, verwandt mit der sensiblen Naturverbundenheit und Menschlichkeit Paula Modersohn-Beckers und mit Gerhard Kurt Müllers reflektierter, oft anklagender Metaphorik. Sie suchte die Menschen, betrachtete die weite Landschaft und die der Großstadt, notierte und verdichtete, um auf Wesentliches und dabei auf "das poetische Geheimnis" zu kommen. Sie rang um die einzige, die richtige Form für Visionen in der Malerei und der Grafik sowie in zwei jeweils mehrteiligen Wandmalerei-Projekten.

Das erste entstand 1979 bis 1981 für die Eingangshalle der Leipziger Nikolaischule und stellte Verbindung zu deren Geschichte her. Diese Wandbilder verschwanden nach 1990. Genauso erging es dem zweiten Projekt, ihrem letzten Werk in Arnstadt für die Schule, die damals den Namen Käthe Kollwitz trug. Jetzt heißt sie nach Ludwig Bechstein. Als Titel für dieses Werk wählte sie: "Käthe Kollwitz und die Gleichgesinnten", Gleichgesinnte wie Rilke und Carl von Ossietzky. Deren markante Porträts schuf sie kurz zuvor als Lithographie und Holzschnitt. Das nach außen Schauen legt uns die Seele ans Herz. Ausgesetzt sein in die Weite der Landschaft, steht Rilkes Gestalt unter den Strahlen einer Sonne, und Carl von Ossietzky, eingekerkert von Häuserfassaden und Brückenbogen, verloren, in sich gekehrt. Mit mächtiger Konsequenz sind Flächen und Strukturen gegeneinander gesetzt. Wobei die Kreide auf dem Stein weichere Formen zulässt, während Härte, Strenge, Gradlinigkeit ins Holz geschnitten wurden.

Lust und Drang, die eigene Sicht von der Welt in Bildern als Memorial für Seelenverwandte zu hinterlassen, mögen die Malerin getrieben haben, den Auftrag für diese Fresken in der Arnstädter Käthe-Kollwitz-Schule zu übernehmen. Am 22. August 1988 starb Petra Flemming mit 44 Jahren, nachdem sie an der linken Wand weitergearbeitet hatte, Blau war eingebracht. Sie wollte nach einer Pause noch die rechte Wand beginnen, vertraute sie kurz zuvor ihrem Tagebuch an (Petra Flemming. 1994, Seite 121). Sehr litt sie an dem Gefangensein in den engen Grenzen von DDR-Mauern. "Wohin?" fragt ihr Bild vom Ende einer kahlen Allee, die ein Gebäude ohne Türen und Fenster mit einem Wegweiser abriegelt, der ins Nirgendwo führt.

Künstlern und Schriftstellern, die nach dem Westen gegangen waren, fühlte sie sich verbunden: "Sarah Kirsch, Domröse, Krug, Müller-Stahl, Thate [...]" (ebenda Seite 97). Und dann nennt sie Helga M. Novak, die als erste ausgebürgerte Dichterin in Leipzig lange unbekannt blieb. Das Unbedingte ihrer zeitkritischen Betrachtung, die sich wie bei Federico Garcia Lorca mit dem "Poetischem Geheimnis" verbindet, entsprach Petra Flemmings Philosophie, wie auch die raue lyrische Innigkeit dieser Dichterin. Hier fand sie die kongeniale Inspirationsquelle für ihre Ikonographie. Helga M. Novak (1935-2013) lernte noch kurz vor ihrem Tod Bilder und Äußerungen der Malerin kennen und schrieb:

"[...] seit langer Zeit hat mich keine Biographie so aufgewühlt, mitsamt den künstlerischen Arbeiten, wie die [...] von Petra Flemming. Ich fühle mich verwandt, geradezu verbunden mit dieser zehn Jahre jüngeren Kollegin [...]" (Brief an Rita Jorek, 2011).

Gemeinsam mit Gerhard Kurt Müller durfte sich Petra Flemming 1986 auf Studienreise nach Paris begeben: "Meine Sehnsucht nach Paris ist riesengroß [...] Etwas von mir blieb dort [...]" (ebenda, Seite 113). Über die Gegensätze zwischen arm und reich konnte sie nicht hinwegsehen und empfand Paris als "Stadt der enormen Kontraste" (ebenda, Seite 117). Die Ausstellung von DDR-Künstlerinnen in Bremen 1986 führte sie nach Worpswede und wieder ein Stück näher zu Paula Modersohn-Becker, für sie die "wichtigste Figur" der Künstlergemeinde vom Barkenhoff, der sie bereits 1984/85 ein großes Gemälde widmete, fast anderthalb Meter im Quadrat, das auf verwegene Weise "in den Westen" geschmuggelt wurde.

Als Metaphern für Persönlichkeiten, die ihr viel bedeuteten, entstanden die strengen, dem Betrachter zugewandten Holzschnittporträts von Käthe Kollwitz oder von Paula Modersohn-Becker in Paris mit dem zum Ornament gewordenen Eiffelturm im Hintergrund, hier ein Zeichen für das diesen Künstlerinnen eigene schicksalhafte Trachten nach künstlerischer Freiheit und persönlicher Ungebundenheit.

*Quelle: http://www.leipzig.de/jugend-familie-und-soziales/frauen/1000-jahre-leipzig-100-frauenportraets/kunst/kunst-portraets/
Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Petra Flemming erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Frau Rita Jorek.

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