Gerhard Kurt Müller

Collection of texts

Features and texts of various authors about the artist and his work

Dr. des. Benjamin Rux
DAS LEBEN FAND ZUR KUNST. ALLES FAND SICH ZU EINEM GANZEN ZUSAMMEN

Rede zur Eröffnung der Ausstellung GERHARD KURT MÜLLER. MALER/BILDHAUER/ZEICHNER im Lindenau-Museum Altenburg am 8. Juli 2018

Der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler schrieb einen umwerfenden, schmalen Roman, den ich im Sommer 2015 verschlungen habe, er hieß Ein ganzes Leben, und es war die Rede von einem einfachen Mann, von einem Außenseiter in der österreichischen Peripherie, der im Alter auf sein Leben zurückblickt. Still und lakonisch breitet sich aus der ganz persönlichen Perspektive des Mannes das Panorama des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und Brüchen vor dem Leser aus. Ich wunderte mich zunächst über den Titel, Ein ganzes Leben, hätte es nicht auch einfach Ein Leben oder Das Leben des Andreas Egger heißen können? Offenbar kam es Seethaler auf das Wort ganz in besonderem Maße an, und nach dem Lesen des Buches war mir auch klar warum: Es ging hier nicht darum, irgendein Leben zu schildern, erst recht kein halbes mit seinen Halbwahrheiten und Inkonsequenzen, auch nicht das einer Stadt oder einer Generation, sondern um das eine, ganz besondere Leben eines besonderen Menschen. Im Kern bezeichnet das ganze Leben also ein mit Muse, mit Leidenschaft und schonungsloser Konsequenz geführtes Leben, in dem sich die Pole Privatheit und Öffentlichkeit, Arbeit und Familie, Kultur und Natur zu einem ganzheitlichen Lebenskosmos ergänzen. Und so ein ganzheitlich und bewundernswert konsequent gelebtes Leben erinnert mich an den Künstler und Menschen Gerhard Kurt Müller.
Wobei: Ein ganzes Leben erscheint mit Blick auf Müller kaum ausreichend für die vielen Erlebnisse, Etappen, Brüche und geschaffenen Werke. So bekannte Müller jüngst in einer Leipziger Tageszeitung, er habe drei Leben. In Gesprächen mit uns sagte er auch, dass er ein Spätling sei, der alt werden musste, um zu wünschenswerten künstlerischen Ergebnissen zu kommen.
Gerhard Kurt Müller wurde 1926 – im gleichen Jahr wie sein Namensvetter Gerhard Altenbourg – in Leipzig-Probstheida geboren. Mit 17 Jahren meldet er sich zur Luftwaffe und kommt 1944 zu einer Fallschirmjägereinheit in die Normandie, wo er zu einem der wenigen Überlebenden des Kessels von Falaise gehört. Im Schutze der Dunkelheit schlägt er sich bis zum Rhein durch, wird dann aber in den Ardennen in eine der letzten Großschlachten des Zweiten Weltkriegs hineingezogen. Ein zweites Mal dem Tod entronnen begibt sich der gerade volljährig gewordene Müller in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wird erst im Herbst 1948 als überzeugter Pazifist und mit dem nicht weniger vehementen Vorsatz, Künstler zu werden, aus Frankreich nach Deutschland zurückkehren. „Meine Generation hatte keine Jugend“ konstatiert Müller heute, Verdrängung war Selbstschutz, „niemals wurde vom Krieg gesprochen, als wäre Nichts geschehen, die bösen Erinnerungen wurden perfekt verdrängt.“ Erst in den 1990er Jahren ändert sich Müllers Verhältnis zur eigenen Kriegsvergangenheit sukzessive und viele Erlebnisse fanden Eingang in Müllers Kunst, so in dem Gemälde Höhe Drei Sieben Sieben.
In seiner Heimatstadt Leipzig schreibt Müller sich 1948 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst ein, wo er als Schüler von Elisabeth Voigt die beste Zeit seines Studiums verbringt. Voigt vermittelt ihren Schülern einen auf Ernst Barlach und ihren Lehrern Carl Hofer und Käthe Kollwitz zurückreichenden Zeichenstil. Zeichen, Zeichnen, Zeichnen war von nun an die Divise. Auf der sicheren Basis einer geschulten Zeichenhand gewann Müller in den frühen Studienjahren ein klares Auge für die bildnerische Komposition.
Unsere Ausstellung setzt mit Müllers in den 1950er Jahren gemalten spätimpressionistischen Gemälden ein, die bisweilen an Carl Blechen und Adolph Menzel erinnern. Es entstehen Landschaften, Interieurs und Porträts. Nach den Querelen um die Präsentation eines Gemäldes auf der Dritten Deutschen Kunstausstellung 1953 in Dresden, das einen Offizier der Kasernierten Volkspolizei zeigt und Müller den Vorwurf einer Orientierung an propagandistischer Kunst einbringen sollte, wendet er sich intensiv einem ganz anderen Genre zu – dem Holzstich. In der langen Leipziger Tradition einer Verschwisterung zwischen Wort- und Bildkünsten entstehen u. a. Illustrationen zu Nikolai Gogols Njewski-Prospekt, zu Friedrich Schillers Kabale und Liebe oder zu Travens Totenschiff, die wir in einer der Vitrinen zeigen. Damit begründete Müller nicht nur die Leipziger Holzstecher-Schule neu, sondern schuf sich in der handwerklich immer perfekter werdenden, subtilen und langsamen Behandlung des harten Hirnholzes selbst die Grundlagen, die seiner seit den späten 1960er Jahren entstandenen Malerei ihren eigenen Charakter geben.
1961 übernimmt Müller an der HGB die Professur für die Klasse Graphik und Illustration, während Bernhard Heisig die Klasse für Graphik und Malerei zugesprochen wird. Unter den Rektoraten Heisigs (1961–1964) und Müllers (1964–1966) erlebt die Leipziger Schule der Malerei ihre eigentliche Gründung. Das Jahr 1968 ist dann ganz entscheidend für den aufsteigenden Künstler. Heute spricht er von dem Jahr, in dem er sich mit der Rue Ramponneau 28.5.1871 als Maler neu erfindet, vom „Ende meiner Naivitätsphase“, in der Ämter, hochschulpolitische Verpflichtungen und unliebsame Auflagen seitens des Verbandes Bildender Künstler seinem im Inneren immer greifbarer werdenden Wunsch nach einer freien, kompromisslosen Künstlerexistenz im Wege standen. Konsequenterweise gibt er alle Lehrverpflichtungen an der HGB auf und verbaut sich damit weitere Karrierechancen – zum Unverständnis seiner an der Hochschule verbleibenden und Karriere machenden Kollegen Heisig, Mattheuer und Tübke. Der beinahe romantisch anmutende Wunsch nach dem unbedingten Leben als freier Künstler, was in der DDR nur eine Entscheidung für ein entbehrungsreiches Außenseitertum sein konnte, nötigt all unseren Respekt ab. Zitat: „Ich konnte nicht anders als Weggehen von dem Laden (…). All dieser Hochschulkram gehört doch nicht zur Malerei“ wird er bei einer späteren Begegnung dem kopfschüttelnden Tübke erklären.
Mit seinen großformatigen Gemälden, die seit 1966 entstanden, lieferte Müller einen der wichtigsten Beiträge zur deutschen Historienmalerei im 20. Jahrhundert. Die Bilder, die Revolutionsereignisse der jüngeren europäischen Geschichte zeigen, durchweht ein humanistischer, liberaler Geist, der ohne überspanntem Pathos in sparsamen Gesten die Erzählung auf ein Mindestmaß beschränkt, wodurch das Handeln der Protagonisten nicht ins Heroische, sondern ins Humane gehoben wird. Im Jahr seines Weggangs von der HGB schuf Müller mit Rue Ramponneau eines seiner großformatigsten und wichtigsten Gemälde, das die erfolglose Verteidigung der letzten von den Kommunarden aufrecht gehaltenen Barrikaden während der Pariser Kommune zeigt. (Vielleicht eines der größten Bilder, die je im Lindenau-Museum Altenburg ausgestellt wurden, und wir sind schon ein bisschen stolz das wir es hier zeigen können, nachdem es im Museum der Bilden Künste Leipzig über 30 Jahre im Depot gehangen hat). Dass es sich hierbei nicht um ein Propagandabild, sondern um eine behutsame Annäherung an den einzelnen Menschen in Grenzsituationen handelt, wird dem Betrachter schnell klar: Einige der Figuren haben genug von den Kämpfen gesehen und halten sich die Augen mit beiden Händen zu, jede Siegesgewissheit ist gewichen. Wie der Maler, der unentwegt zum Pinsel greift, auch wenn er einsehen muss, dass er den Lauf der Welt damit nicht ändern kann, gibt hier eine Gruppe erschöpfter, aber beharrlicher, klar unterlegener, aber weiterkämpfender Figuren vor dem Hintergrund des Prager Frühlings und der auch in der DDR nicht spurlos vorbeigegangenen Ereignisse der 68er-Generation ein beredtes Stimmungsbild der Gesellschaft.
Diesem monumentalen Bild kann man nicht gleichgültig gegenüberstehen. Müller legt die Position des Betrachters nämlich gleich mit fest: Wir befinden uns beim Betrachten mit den Kämpfern und mit dem Maler hinter den Barrikaden und werden auch im 21. Jahrhundert in Anbetracht von extremer globaler Ungerechtigkeit und einem vom Kapitalismus induzierten sozialen Ungleichgewicht zu einer Haltung in dieser Welt aufgefordert. Eine solche Haltung stiftet auch das direkt gegenüberliegende dreiteilige Kunstwerk der Hamburger Trilogie. Wie so oft dominiert auf Müllers Gemälden fast immer nur ein bestimmter Farbton – oft das Rot oder das Blau, nie das Grün, in der Hamburger Trilogie ist es ein ins Rot gleitendes mattes Gelb, das die vier Körper der Barrikadenkämpfer und ihre Umgebung zusammenschmilzt. Zwei Männer halten mit ihren Gewehren die Verteidigung des hölzernen Postens aufrecht, ein dritter ist rechts neben ihnen bereits gefallen. Seine noch immer energisch geballte Faust kann als Zeichen des Widerstandes über den Tod hinaus gelesen werden. Neben dem berstenden Bretterverschlag hat ein vierter Kämpfer vor lauter Verzweiflung seine Kutte über den Kopf gezogen, wobei sinnbildhafte, wie von einem Pflug gezogene Furchen entstehen. Müllers Historienbilder sind – wie hier – kraftvoll, raumfüllend und frontal, als ob das zurückliegende Geschehen in unsere Gegenwart hineinragen soll. Doch zeitgleich sind sie durch ihre klare Komposition und die „innere Größe der statuarischen Auffassung“ beruhigt und stabil. Sie erlauben dem Betrachter ein sukzessives visuelles Abtasten der Maloberfläche, ein Verweilen hier und ein Nachdenken dort. Sie sind monomentale, beinahe sakrale Monumente und Mahnmale. Als ob Müller sein Bildverständnis noch zu unterstreichen beabsichtigt, stellt dem Gemälde zwei hochaufragende Holzfiguren – den Arbeiter im Soldatenmantel und die Schwangere Frau – zur Seite, zwei in sich ruhende, meditierende, wie die Skulpturen am Königsportal der Kathedrale von Chartres aufs Wesentlichste reduzierte Figuren also, die dem Gemälde Halt und nach innen gerichtete Konzentration verleihen.
Anregend für die konzentrierte Spannung und rational-kompositorische Durchdringung der Gemälde verhielt sich Müllers in diesen Jahren intensivierte Beschäftigung mit den bildnerischen Gestaltungsprinzipien der Frührenaissance und der beginnenden Moderne. Der Künstler selbst führt Piero della Francesca und Paolo Uccello als zwei seiner wichtigsten Maler an, besonders von Uccellos Schlacht von San Romano fühlte sich Müller angesprochen. Näher an das Thema des Aufstandes heran führte Müller dann seine ausführliche Beschäftigung mit Goyas Gemälde Die Erschießung der Aufständischen. Schon mitten im Krieg kamen Müller Büchlein mit Abbildungen von Kunstwerken des großen spanischen Malers in die Hände, die er an der Front immer bei sich trug. Goyas Verdichtung des historischen Ereignisses auf wenige einprägsame Gesten – allen voran die ausgebreiteten Arme der christusähnlichen Figur, die hell beleuchtet ist – faszinierte Müller ebenso wie die Klarheit in der Komposition und die Ausrichtung des Bildes an einem dominierenden Farbwert. Fasziniert zeigt sich Müller auch von den Gemälden Rembrandts. Und seit kurzem hat er hier im Lindenau-Museum ein neues Lieblingsbild ausfindig gemacht, nämlich die im letzten Jahr restaurierte Tafel mit dem Kampf orientalischer Reiter des florentinischen Malers Starnina (der sich übrigens auch einreiht in die Liste großer Künstler, deren Vorname „Gerhard“ lautet, hier italienisch „Gherardo“, während Ihre Freunde Sie gern noch viel schöner „Gérard“ nennen – aufgrund Ihrer Vorliebe für alles Französische).
Als die Hamburger Trilogie entstand, lebte Müller gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der Malerin Petra Flemming, und den Kindern seit 1977 in Posterstein und später dann in Friedrichsdorf bei Erfurt. Müller ist vierfacher Vater, und die Liebe zu den Kindern zeigt sich an vielen Stellen auch in seinem Oeuvre, so in den beiden Handpuppen, die wir in einer der Vitrinen zeigen. Nach einigen Jahren in Thüringen geht es dann wieder zurück nach Leipzig. Die 1980er Jahre waren eine besonders fruchtbare Zeit in Müllers Schaffen. Viele Skulpturen und Gemälde entstehen, viele davon nach längerer Auseinandersetzung mit Alfred Jarrys absurdem Drama König Ubu, die gemeinsam mit Entwurfszeichnungen und Druckgrafiken zum Thema einen Schwerpunkt in der Ausstellung bilden. In der Figur des Ubu trifft die Macht auf den Machtmissbrauch, derbe Unbildung auf Gewalt. Menschen mutieren zu Robotern und willigen Vollstreckern. Dabei sind Müllers Bilder zu Jarrys Drama nie Illustrationen, sondern immer Deutungen in die Gegenwart. So geben Müllers Kunstwerke immer Auskünfte über das universell Menschliche, obwohl sie dem Historischen verhaftet bleiben.
So auch in den hier gezeigten, 2003 entstandenen, 44 Zeichnungen der Serie La Grande Guerre zu Henri Barbusses Roman Le feu (Das Feuer). Hier setzt sich Müller auf der Basis seiner eigenen Kriegserfahrungen mit den schonungslos geschilderten Ereignissen des Ersten Weltkriegs in Barbusses Roman auseinander, der ein wichtiger Vorläufer für Remarques Im Westen nichts Neues war. Selten zuvor ist eine so eindringliche, düstere wie schonungslose Bilderserie über den Krieg entstanden. Sie gehört zum Besten, was die Zeichenkunst der letzten Jahrzehnte zu diesem wichtigen Thema zu bieten hat.
Das Eindringliche, Schonungslose, ja auch Beklemmende sind Grunderfahrungen beim Betrachten von Müllers Kunst. Wiederkehrende Figuren wie der Trommler, der Maskenmensch und die Trauernden prägen sich dem Betrachter als Sinnbilder des verletzten und entfremdeten modernen Individuums ein. Ein tiefes Mitempfinden, ein tief verwurzelter Humanismus ist allerorten spürbar. Ganz entscheidend dafür ist auch Müllers bildnerisches Denken. Seine Bilder sind komprimiert, klug komponiert und auf wenige elementare Gesten beschränkt. Hier zeigt er sich mehr noch als seine Zeitgenossen Heisig, Tübke und Mattheuer der Klassischen Moderne verpflichtet. Anders als im Westen, wo man sich beflissentlich über alle Traditionen erhob und sich mit Minimal und informeller Kunst ganz dem Kommenden verschrieb, konnte man im Osten nicht treugläubig an einen linearen Fortschritt glauben. Fortschritt war die Sache der Partei und also suspekt. Die Geschichte hingegen bot vielerlei Nischen und Haltepunkte, und viele Heroen der Moderne, die man wiederaufleben ließ. Cézanne und Beckmann, Picasso und Brâncuși – für Müllers bildnerisches Denken waren sie wegweisend.

Die Ausstellung im Lindenau-Museum zeigt den ganzen Müller mit über 150 Arbeiten – Gemälde, Skulpturen aus Holz, Travertin und Metall, Zeichnungen, Radierungen, Holzschnitte, Holzstiche, Entwurfszeichnungen, Skizzenbücher und Handpuppen. Und die Müller-Festspiele gehen noch weiter: Im Treppenhaus ist mit der Demonstrantin ein weiteres Hauptwerk Müllers zu sehen, das Müllers Bildverständnis von Kunst als Möglichkeitsform des Widerstandes unterstreicht. Und in der aktuellen Ausstellung Das Runde und das Eckige – Fußball in der Kunst begegnen wir dem Gemälde Footballer von Müller.

Lieber Herr Prof. Müller, wir denken gern an die vielen Gespräche mit Ihnen, die Besuche in ihrer Wohnung in der Beuthstraße und in der Stiftung zurück. Wir hatten im Vorfeld der Ausstellung so viele Fragen an Sie, dass wir einige im Vorfeld schriftlich ausformulierten und mit handschriftlichen Kommentaren von Ihnen zurückbekamen. Sie kennengelernt zu haben ist eine große Bereicherung. Kunst und Leben sind bei Ihnen schwerlich zu trennen, und wir freuen uns sehr, hier nun 65 Jahre ihres vom Leben gesättigten künstlerischen Schaffens sehen zu dürfen. Das Leben fand zur Kunst, der Inhalt zur Form und in bezwingender Logik die Zeichnung zur Malerei und die Malerei zur Bildhauerei. Alles fand sich zu einem Ganzen zusammen. Zu einem ganzen Leben. Ein ganzes, zufriedenes, schonungsloses und ein wenig demütiges Leben. Und das ist große Kunst.


Rede des Kurators zur Eröffnung der Ausstellung GERHARD KURT MÜLLER. MALER/BILDHAUER/ZEICHNER im Lindenau-Museum Altenburg (Thüringen) 8.7.-7.10. 2018.
Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Benjamin Rux

Dr. Eckhart Gillen
KUNST ALS AUSDRUCK EINER KRISTALLIN ERSTARRTEN WAHNWELT

Ein erster Annäherungsversuch an Gerhard Kurt Müller anlässlich seines 90. Geburtstages [Laudatio]

Im Gegensatz zu Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke, ist mir Gerhard Kurt Müller leider lange ein Unbekannter geblieben. Deshalb möchte ich hier über die Gründe für diese verzögerte Wahrnehmung eines der wichtigen Künstler der Nachkriegsmoderne in Deutschland ein paar Worte sagen.
Der lange ausgebliebene Ruhm mag zu tun haben

1. mit dem Charakter des Werkes selbst, das auf den ersten Blick abweisend, hermetisch, befremdlich erscheint, den Betrachter mit kalten Farben, spitzen, zackigen, aggressiven Formen buchstäblich angreift und erregt. Nirgends findet das Auge Ruhe, Harmonie, Wärme.

2. Zum Zweiten aber vermute ich, dass sein konsequenter Rückzug vom Lehramt des Professors und die Verweigerung einer zweiten Karriere unter Honeckers Verheißung einer neuen Ära der „Weite und Vielfalt“ seinen Bekanntheitsgrad vor allem im Westen nicht gerade gefördert hat.
Seit ihrem gemeinsamen Auftritt auf der documenta 6, 1977 dominierte die sogenannte Viererbande Heisig, Mattheuer, Sitte, Tübke und die beiden Bildhauer Jastram und Stötzer das Bild der offiziellen Kunst in der DDR in der westdeutschen Öffentlichkeit. Die ursprüngliche Leipziger Vierergruppe Heisig, Mattheuer, Müller, Tübke, war bereits in den 1970er Jahren vergessen und Müller wurde, weil er sich dem Dienst an der Gesellschaft von Honeckers Gnaden verweigerte, durch den Hallenser Sitte ersetzt, der 1974 gerade zum Verbandspräsidenten berufen worden war.

3. Lange hat ihn ein Bild verfolgt, ein absoluter Solitär in seinem Werk: das berühmt berüchtigte „Bildnis eines Offiziers der kasernierten Volkspolizei“ von 1953 (Öl auf Leinwand, 100 x 83 cm), das der Künstler 1955 vernichtete. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es ausgerechnet dieses Bild war, dass zum ersten Kontakt mit Ilse Stein, seiner energischen und klugen Lebensgefährtin geführt hat. Ich fragte nach den Abbildungsrechten und wurde abschlägig beschieden. Zu recht, wenn ich mir das sorgfältig erarbeitete Werkverzeichnis anschaue, das Dank der verdienstvollen Arbeit von Cecilia Witteveen und Siegfried Schäfer jetzt vorliegt.

Die Betrachtung und die Lektüre von diesem Werkverzeichnis ist ein besonderes Vergnügen, zeichnet es doch minutiös den Prozess nach, in dem der Künstler Gerhard Kurt Müller sich aus der handwerklich grundierten Konvention wie der Schmetterling aus seiner Verpuppung löst und befreit.
Heute wissen wir, mit welchem Druck Bilder für diese III. Deutsche Kunstausstellung, die den Anschluss an das sowjetische Vorbild beweisen sollte, zusammen geschustert wurden. Vor allem unter den noch abhängigen Studenten und jungen Absolventen an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst suchte man Maler dieser Modellbilder. In diesen Monaten, vor allem nach dem 17. Juni und im Rahmen des Neuen Kurses, fand damals ein rabiater Konkurrenzkampf zwischen der Malermetropole Dresden mit ihrer traditionsreichen Kunstakademie und der Anmaßung einer neuen Leipziger Schule als Musteranstalt für das sowjetische Modell des Sozialistischen Realismus statt, der vor allem von Lea Grundig befeuert wurde.
Helmut Holtzhauer, Chef der zentralen Staatlichen Kunstkommission (Stakuko) kritisierte die „impressionistische“ Manier der Dresdener Schule: „Diese Methode des Unvollständigen entspricht wohl einem unzulänglichen gedanklichen Erfassen des Themas, aber vor allem der ungenügenden Vorbereitung durch sorgfältige Studien. Die Entwürfe müssen bereits so exakt gezeichnet sein, wie es das Kunstwerk selbst sein soll. [...] Diese schönen Arbeiten [...] sind das Ergebnis einer sorgsamen, zielbewußten und konsequenten Erziehungsarbeit an dieser Hochschule, die den jungen Talenten den Weg ebnete“ (1). Die HGB hatte also unter der Leitung ihres Direktors, Prof. C.K. Massloff, ihre Aufgaben als Kaderhochschule für die Etablierung des Sozialistischen Realismus als Dogma vorbildlich erfüllt.

Weder vor 1953, noch danach gibt es irgendein vergleichbares politisch-propagandistisches Bild von Gerhard Kurt Müller. Seine Bilder aus jener Zeit sind seit 1951 ausschließlich dem Thema der Landschaft in der Leipziger Region gewidmet mit Ausnahme des „Viadukt in Atrano“ (Kopie nach Karl Blechen), 1952: „Bei Auerstädt“, 1951; „Sommer“ (Kleine Landschaft), 1952; „Landschaft mit Obstbäumen“, 1952 oder „Brache“ (bei Leipzig); „Auenlandschaft bei Leipzig“, 1952, ein Selbstporträt von 1952... in einem noblen, spätimpressionistischen Stil, der an Max Liebermann (z.B. „Landschaft mit Gänsen I“, 1955) erinnert. Mit den Strandbildern „An der Ostsee II und III“ lockert sich die Peinture auf. Porträts erscheinen überhaupt erst wieder ab 1962.
Dann aber erscheint plötzlich mit „Kleiner Mond“, 1961 [ein Bild das er 2003 und 2005 wiederholt hat], „Gelbe Birne“, ebenfalls 1961, „Frau mit Zitrone“ (1962), „Frau mit Spiegel“ (1962) und „Kleiner Chrysanthemenstrauß“ (1963) unvermittelt ein völlig neuartiger, sachlicher, objekthafter Stil. Diese Bilder entstanden inmitten einer Produktion von weiteren Vorstadtgärten und Stadtlandschaften („An der Rennbahn in Leipzig“, 1961), aber auch von mehr oder weniger konventionellen Porträts wie sein Sohn Frank („Porträt Frank“, 1962), „Junger Arbeiter aus dem Kirow-Werk Leipzig“ (1962), „Schwester Anne“ (1962), die z.T. auch auf der Fünften Deutschen Kunstausstellung Dresden“ (1962) hingen. Obwohl allen diesen Bildern nichts Forciertes, Propagandistisches anhaftet, eher eine Konventionalität und Malkultur, die auf ein breites Publikum zielt, ist der gleichzeitige Bruch mit dieser Malerei erstaunlich.

Den Höhepunkt dieser Entwicklung markieren die beiden Großformate „Interbrigadisten von Teruel“ (1966/1967, 250 x 280 cm) und „Rue Ramponneau 28.5.1871“ (1968/69). Der Name Teruel erinnert an die im Spanischen Bürgerkrieg erbittert umkämpfte Stadt, die auf halbem Wege zwischen Madrid und Barcelona gelegen, im Herbst 1937 Ziel einer Offensive der Franco-Truppen war, die zum Mittelmeer durchstoßen wollten und damit das republikanische Spanien teile wollten. Vor der wie eine ferne Verheißung auf dem Berg liegenden Stadt versammeln sich die Interbrigadisten auf freiem Feld.
Die Interbrigadisten erhielten 1973 den Hauptpreis der I. Internationalen Triennale für Malerei in Sofia. Dieses Bild, das auf der VI. Deutschen Kunstausstellung gezeigt worden war, bekam die Gemäldegalerie Neue Meister vom FDGB geschenkt.
Die „Rue Ramponneau 28.5.1871“ (1968/69) zeigt die letzte Barrikade der Pariser Kommunarden. Auch dieses Gemälde findet seinen Weg in eines der zentralen Museen der DDR, das Museum der bildenden Künste in seiner Heimatstadt Leipzig.
Der Maler Gerhard Kurt Müller ist wieder da, findet Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Dieser neue Malstil fiel nicht aus heiterem Himmel, wie es der Blick in das Werkverzeichnis vermuten lässt. Ihm vorgearbeitet hat sicher seine Hinwendung zur Grafik in den 1950er-Jahren nach dem Reinfall mit dem politischen Auftragsbild. In diesen Jahren begann er seine intensive Auseinandersetzung mit der Zeichnung und Grafik. Die „Frau mit Zitrone“ (1962), die so plötzlich inmitten der spätimpressionistischen Gemälde hervortritt, war sorgfältig und systematisch vorbereitet worden von strengen, abstrahierenden Zeichnungen mit kristallinen Strukturen, wie der „Studie eines stehenden jungen Mannes“ (1954, Bleistift/Feder, 70 x 41,3 cm) oder der „Porträtstudie“ (1954, Bleistift/Feder, 67 x 41 cm).
Gegen Ende der 1950er-Jahre griff Müller die vergessene Technik des Holzstiches wieder auf, mit dem er, ganz in der Leipziger Tradition der die Literatur kongenial begleitenden grafischen Kunst, Arbeiten zu Nikolai Gogol, Georg Weerth, Clemens Brentano, Traven, Brecht, Heine entwickelte. Dabei stand er neben Karl Rössing, vor allem in der Tradition eines Wladimir Faworski, der mit seiner Kunst des Holzstiches Anfang der 1920er-Jahre, neben David Sterenberg, zugleich der Lehrer der veristischen und neusachlichen Künstler der Gesellschaft der Staffeleimalerei (OST), zu der z.B. Alexander Deineka und Juri Pimenow gehörten, war, die 1925 erstmals mit einer Ausstellung in Moskau hervortraten. Auch Müller hat in Leipzig eine neue Holzstecher-Tradition begründet, die nicht in Konkurrenz zur Malerei stand, sondern ihr jenes besondere Gepräge verliehen hat, das der Leipziger Malerei ihren Charakter und internationalen Ruf auch und gerade nach der Wende 1989 gesichert hat.
Zu seinen Schülern gehören: Karl-Georg Hirsch, Rolf Münzner, Volker Stelzmann, Baldwin Zettl.

Inzwischen wissen wir, und man hätte es immer wissen können, dass Bernhard Heisig und Gerhard Kurt Müller gemeinsam die Gründer der Leipziger Malschule waren.
Schauen wir uns in Stichworten einmal die parallelen Lebenswege und ihre charakteristischen Abweichungen an:

Heisig 1925 in Breslau geboren,
Müller 1926 in Leipzig Probstheida,
beide stammen aus proletarischen und kleinbürgerlichen Verhältnissen.
Heisig meldet sich Ende 1941 freiwillig zur Wehrmacht, wird Anfang September 1942 eingezogen, landet bei der 12. SS-Panzer-Division Hitler-Jugend, nimmt an der Ardennenschlacht im Dezember 1944 teil, wird im Januar 1945 in die zur Festung erklärte Großstadt Breslau abkommandiert, die am 6. Mai kapituliert. Die Kriegsgefangenschaft in Sibirien bleibt ihm erspart. Ende 1946 muss er mit seiner Mutter Breslau verlassen, über Zeitz, Weißenfels und Gera, wo er als Gebrauchsgrafiker arbeitete, kam er im Oktober 1948 nach Leipzig.
Auf Anraten von Walter Münze, einem altkommunistischen Maler, wird er Mitglied der SED. Ab Oktober 1949 Studium an der HGB bei Elisabeth Voigt und Max Schwimmer. Nach dem erzwungenen Ausscheiden von Max Schwimmer bricht er im Sommersemester 1951 sein Studium ohne Diplom ab. Arbeitet als Werbegrafiker für die Leipziger Messe.
Müller meldet sich 1943 freiwillig zur Luftwaffe, kommt zu einer Fallschirmjägereinheit, Kriegseinsatz in der Normandie (Juni 1944) und in den Ardennen (Dezember 1944), am 10.3.1945 gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, dann in französische, Rückkehr wie Heisig 1948 nach Leipzig als Pazifist.
Studium an der HGB ab 1948 bei Elisabeth Voigt, Walter Arnold und Kurt Massloff. Beitritt zur SED. Abschluss des Studiums 1952 mit dem Diplom: Satirische Lithographien und eine theoretische Arbeit über Honoré Daumier.
Heisig wird 1954 Assistent, Anfang September 1956 schließlich Dozent und Leiter einer Fachklasse für Graphik. 1956 bis 1959 Nachfolger von Walter Münze als Bezirksvorsitzender des VBKD. Das Lehramt übt er bis zu seinem freiwilligen Rücktritt 1968 aus.
Müller wird auch 1954 zum Dozenten und Leiter der Klasse für Freie Grafik und Illustrationen an der HGB ernannt. Das Lehramt übt er aus bis zu seinem freiwilligen Rücktritt 1968.
Heisig wird 1961 auch zum Professor und zugleich zum Rektor berufen.
Müller wird 1961 zum Professor berufen.
Mit seiner Ernennung zum Prorektor 1960, zum Professor und Rektor im gleichen Jahr kann Bernhard Heisig zusammen mit Gerhard Kurt Müller endlich der Malerei an der Hochschule mehr Geltung verschaffen und die Vergabe von Malerei-Diplomen durchsetzen. „Die Malerei habe ich überhaupt erst durch die Hintertür in die Schule eingeführt, das durfte ich eigentlich gar nicht. Gemalt wurde nur in Dresden. Wer malen wollte, mußte nach Dresden gehen. In Leipzig sollte nur gezeichnet werden" (2). Zunächst richtet er eine Klasse für farbige Gestaltung ein, über die er ab Herbst 1962 auch eine Klasse für freie Malerei einführen konnte. „Über den Trick der sogenannten farbigen Gestaltung habe ich dann, ehe man das in Berlin merkte, eine Malklasse eingeführt. In dieser Zeit kam die erste Gruppe von Studenten der Malerei, zu der z.B. auch Ebersbach gehörte“ (3). Die von Müller verantwortete Festschrift zum zweihundertjährigen Bestehen der Hochschule würdigt Heisigs Einsatz für die Einführung der Malerei in das Studium: „Unter dem Rektorat des Malers und Grafikers Bernhard Heisig wurde die Malerei als Ergänzung zum Grafik-Studium wieder einbezogen. Der Lehrkörper ist der Auffassung, daß das Studium der Malerei auch anregend auf die Anwendung der Farbe in den grafischen Künsten und der Buchkunst zu wirken vermag“ (4). Zur Abteilung Grafik gehören eine Klasse für Grafik und Malerei und eine Klasse für Grafik und Illustration.
Heisig tritt 1964 offiziell aus gesundheitlichen Gründen als Rektor zurück, in Wirklichkeit aber wegen seiner Rede auf dem V. Kongress des VBKD und der erzwungenen Selbstkritik im Ostberliner Künstlerklub „Möwe“ im Sommer 1964 und einer „strengen Rüge“ der Partei, die nach fünf Jahren gelöscht wird.
Müller folgt ihm 1964 als Rektor bis 1966. Leitung der Zweihundertjahrfeier der Kunstakademie. Erhält Kunstpreis der Stadt Leipzig.
Heisig beginnt 1955/56 den Lithographiezyklus nach Ludwig Renn: Krieg.
1964 beginnt er mit dem Thema „Pariser Kommunarden“ als Auseinandersetzung mit seinem Kriegstrauma. 1965 erscheint der Lithographiezyklus „Faschistischer Alptraum“.
Müller malt die „Rue Ramponneau 28.5.1871“ (1968/69), die letzte Barrikade der Pariser Kommunarden als sein zweites Historienbild (nach „Interbrigadisten vor Teruel“ (1966/67), das sich mit dem Krieg befasst.
2002 lässt er sich vom Henri Barbusse-Buch „Le Feu“/Das Feuer anregen zu dem grandiosen Zyklus von Zeichnungen „La Grande Guerre“.
Heisig/Müller: In den Arbeiten der Diplomklassen von Heisig und Müller sehen die Vertreter der SED-Bezirksleitung Erscheinungen von „ausgeprägten Skeptizismus“, hier würde „nicht die innere Größe und Dynamik unserer menschlichen Entwicklung gestaltet [...], vielmehr Kälte und Reserviertheit“. Verfehlt sei die Auswahl von Texten für die Buchillustration (Kafka, Sartre, Walser). Für diese Situation wird „die geistige Grundhaltung der Genossen Dozenten“ verantwortlich gemacht (5).
Heisig und Müller kündigen ihre Professuren nach der Androhung einer Parteischulung.
Heisig malt während seiner Zeit als freischaffender Maler ab 1968 Lenin- und Brigadebilder.
Müller malt „Verbrüderung deutscher und russischer Soldaten 1917“ (Armeemuseum der DDR, heute: Militärhistorisches Museum Dresden) und „Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“ (Kunstsammlung der Karl-Marx-Universität Leipzig).
Heisig: nutzt die Chance einer zweiten Karriere unter Honecker: 1972 Verleihung der Kunstpreise der Stadt Leipzig und des FDGB, Nationalpreis II. Klasse, erneute Übernahme des Vorsitzes des Leipziger Bezirks des Verbandes Bildender Künstler. Heisig wurde Mitglied der Akademie der Künste der DDR, erhält 1974 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold und den Theodor-Körner-Preis der Nationalen Volksarmee, wird Vizepräsident des VBK-DDR und erhält 1975 die Johannes R. Becher-Medaille in Gold. Mit der Übernahme seines zweiten Rektorats an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) endet 1976 eine achtjährige Periode freiberuflichen Schaffens. 1976 Kandidat der SED-Bezirksleitung Leipzig.
Bei diesem Aufstieg in leitende Ämter stehen Heisig als „Bewährungshelfer“ zwei informelle Mitarbeiter zur Seite. Oskar Erich Stephan und seit 1974 der Kunstwissenschaftler Karl Max Kober als IMS „Dr. Werner“ (6). Auch der damalige wissenschaftliche Oberassistent an der Karl-Marx-Universität Leipzig macht jetzt plötzlich Karriere und wird zum Professor und zweiten Vizepräsidenten des VBK-DDR, neben Heisig, ernannt. Kober versteht es in kurzer Zeit zum vertrauten Gesprächspartner zu werden. Die Familien Kober und Heisig machen regelmäßig gemeinsam Urlaub. In Kobers Nachlass finden sich dutzende Tonbandkassetten mit aufgezeichneten Gesprächen, heute im Nachlass von Kober in der Akademie der Künste.
Müller: Das Angebot 1970, erneut das Rektorat der HGB zu übernehmen, lehnt Müller ab, um sich ganz seiner künstlerischen Arbeit zu widmen. 1971 erste zeichnerische Entwürfe für Bildhauerarbeiten, 1973 erste Holzskulpturen.
1979 Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur.
1984 schreibt Lothar Lang, IM und Kunstkritiker: Es gibt keinen zweiten Maler in der DDR, der stereometrische Konstruktionen so radikalisiert wie Müller. 'Knabe und Trommler' ist mit seinem beängstigenden kubistischen Rhythmus ein Beispiel dafür. Solche Malerei ist tatsächlich ein Novum... (7).

In den 1970er-Jahren also trennen sich die bis dahin so auffallend parallelen Lebens- und Karrierewege von Heisig und Müller.
Müllers künstlerische Entwicklung entfaltet sich in den kommenden Jahrzehnten radikal und kompromisslos. Neben Barbusses Anti-Kriegsbuch ist es vor allem Alfred Jarry (1873-1907) und sein Bürgerschreckstück „König Ubu“ der ihn anregt und anstachelt.
Ende der 1970er-Jahre liest Müller den Text in einem Reclambändchen, herausgegeben von Hans Marquardt. Das Stück löst 1896 einen Theaterskandal in Paris aus. Jarry gilt als Vorläufer des absurden Theaters. Ubu spielt in Polen, ein Land, das es Ende des 19. Jahrhunderts gar nicht mehr gab, ein Niemandsland, in dem die Anmaßung der Macht und ihre grotesken Folgen thematisiert werden.
Es entstehen nach dieser Lektüre Kaltnadelradierungen und das Gemälde „Großes Ubu-Bild“, das als Ausdruck der großen Stagnation knapp ein Jahrhundert später in der DDR gesehen werden kann. Das Buch und das Stück findet zu Müller zur rechten Zeit: 1982 begann das Kriegsrecht in Polen.

Alfred Jarry, gestorben 1907 in Paris an den Folgen von Armut, Absinth und Äther, konterkarierte am Ende des 19. Jahrhunderts den scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt der exakten Wissenschaften mit der Erfindung der Pataphysik: „Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll, Pataphysiker“ (8). Diese „Neo-Wissenschaft“ definiert Jarry, die aristotelische Maxime, es könne nur eine Wissenschaft des Allgemeinen geben, parodierend, als Lehre von den Abweichungen, als Wissenschaft des Besonderen. „Sie soll die Gesetze untersuchen, durch die die Ausnahmen bestimmt werden, […]“ (9).
Die antike Theorie des Clinamen, die Jarry in einer Philosophie-Vorlesung von Henri Bergson gehört hatte, bringt ihn auf die Idee, dass die Welt ohne Abweichungen von den Gesetzmäßigkeiten nie entstanden wäre und sich entwickeln könnte:
Jarry erklärt: „Überall – in der Metaphysik, in der Politik und im Privatleben werden wir von dem absurden Bedürfnis nach Logik tyrannisiert’ […] Die Logik ist eine gerade Linie, geschaffen für die simplen Geister.“ Jarry weiß, dass „[man] [d]ie Schichten des Universums nicht in banaler Direktheit [durchdringt]“ und findet aus diesem Grund in dem Bild der Spirale ein perfektes Markenzeichen und Symbol für seine Wissenschaft – „unmöglich, in dieser Bewegung einen festen Halt zu finden.“

Müller liest diese Texte als einen Generalangriff auf unser rational und logisch denkendes Gehirn und auf die strenge hegelianisch-marxistische Fortschrittstheorie der SED und ihre mitleidslose Logik der Macht.
Im Geiste Alfred Jarrys gelingt es Gerhard Kurt Müller seine Kunst als Ausdruck einer kristallin erstarrten Wahnwelt zu steigern. Damit traf er die DDR ebenso wie die schöne neue Welt des westlichen Materialismus.

Eckhart Gillen, 1. Oktober 2016
Laudatio anlässlich der Eröfffnung der Ausstellung zum 90. Geburtstag von Prof. Gerhard Kurt Müller, in den Räumen der Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung, Leipzig, am 1. Oktober 2016.


(1) Holtzhauer, Die III. Deutsche Kunstausstellung in Dresden. In: Bildende Kunst, H. 1, 1953, S. 32
(2) Lutz Dammbeck, Interview mit Heisig für den Film „Dürers Erben“ am 20.4. 1995, Typoskript, S. 16
(3) Bernhard Heisig, aus einem Gespräch in Strodehne am 17.8. 1994. In: „Die Einübung der Außenspur. Die andere Kultur in Leipzig 1971-1990“, hrsg. von Uta Grundmann, Klaus Michael und Susanna Seufert, Leipzig 1996, S. 56
(4) „Zweihundert Jahre Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig“, Leipzig 1964, S. 38
(5) SächsStAL, SED-BL IV/A/2/9/02/356: Eva Barth (Abt. Kultur), Gerhard Butzmann (Abt. Schulen, Fach- und Hochschulen): Information für Gen. Paul Fröhlich vom 14.7.1966. Zit.n. Eckhart Gillen, Tino Heim und Paul Kaiser, Wir glaubten alle, da muss noch was kommen... Stichworte einer Biographie, in: Eckhart Gillen (Hg.), Bernhard Heisig. Die Wut der Bilder, Ausst.Kat., Köln 2005, S. 320
(6) BStU, BV Leipzig, AGMS 1295/89 und AIM 2158/82, Bd. I, 1, Bl. 40: Bericht zur Werbung, Leipzig, 19.5.74., und Bl. 43: „Erklärung“ (d.i. Verpflichtung), 16.3.74
(7) Lothar Lang, Die Weltbühne, Nr. 44, 1986
(8) Die Ausführungen über Alfred Jarry und seine Pataphysik stützen sich auf Maria Cecilia Barbetta, Was würde sich ändern, erführen wir von der Existenz der Pataphysik, der 'Wissenschaft imaginärer Lösungen', unveröff. Typoskript, und auf Klaus Ferentschik, Pataphysik – Versuchung des Geistes. Die Pataphysik & das Collège de Pataphysique. Definitionen, Dokumente, Illustrationen, Berlin 2006
(9) Alfred Jarry, Alfred: Heldentaten und Ansichten des Doktor Faustroll, a.a.O., S. 36

Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Eckhart Gillen

Michael Faber
GERHARD KURT MÜLLER ZUM NEUNZIGSTEN

Begrüßungsrede anlässlich der Eröfffnung der Ausstellung zum 90. Geburtstag von Prof. Gerhard Kurt Müller


Sehr geehrte Frau Stein, meine sehr verehrten Damen und Herren,
großer Künstler, feiner Mann – lieber Gerhard Kurt Müller;

da man erwogen hat, mit mir fünf Herren reden zu lassen (wo bleibt eigentlich die Frau!), verstehe ich mich als erster Redner in der Pflicht, mich sehr kurz zu fassen. Nach meiner Erfahrung werden Sie als Gäste es nicht eben bedauern. Und wenn man kurz und knapp sein will, ist vielleicht die Beschränkung auf nur einen Gedanken eine gute Empfehlung.

Es soll um Zeitgeist und Moderne gehen und als ehemaliger Verleger bediene ich mich eines Zitats des Begründers der literarischen Moderne, Sie wissen schon, Gustave Flaubert. Der nämlich gab den Ratschlag an seine Kollegen Künstler: „Sei ordentlich und gewöhnlich im Leben, wie ein Bourgeois, auf daß du in deinem Werk radikal und originell sein kannst.“

Klar, da fallen uns auch einige Künstlerbiographien ein, wo das radikale, antibourgeoise auch Lebensinhalt und prägende Biographie waren.
Aber nähern wir uns dem Werk von Gerhard Kurt Müller: In einer beinahe stoischen Ruhe und verdachtweise stillen bürgerlichen Existenz erträgt er seit Jahren, ja Jahrzehnten, in den großen Kunstdebatten und Kunstmarktorgien und Rezeptionskriegen nicht vorzukommen und das obgleich sein stetig wachsendes Werk alles andere als unoriginell, also nicht austauschbar, selbstredend radikal zu nennen wäre. Natürlich hat Müller von Anfang an seine Kunst, die wie andere große Kunst mehrere Zäsuren erfahren hat, nicht auf schnelle Entropie angelegt: auf den ersten Blick „witzig“(wie man so oft liest), auf den zweiten schon platt, und bei jeder weiteren Wiederholung uns Betrachter fast beleidigend. Andy Warhol, der Hauptagent dieses Typus, sei beispielhaft genannt. Natürlich wären auch andere zu nennen. Nein, Müller war daran gelegen, nach einer tiefer gehenden Wahrheit zu suchen, nach dem Kern unserer menschlichen Gemeinschaften. Nichts verbraucht sich so schnell wie das permanente Hecheln nach Überraschung, das zum künstlerischen Verfahren erklärt wird. Und weil dem sog. Post-Modernismus von Anfang an das Problem der häufig schon zur Routine erstarrten Überraschung inhärent war und ist, müssen wir wohl nach Betrachtung Müllerscher Werke, ihn in dem vorgenannten Sinne als gnadenlos unmodern bezeichnen.
In der DDR gab es einen Spruch: wer konsequent in den Osten auswandert, kommt auch im Westen an. Gerhard Kurt Müller scheint mit seiner Kunst die Umkehrung des Modernismus zu praktizieren, um am Ende moderner denn je in seinen Werken zu sein.

Der Medientheoretiker und Philosoph Boris Groys hat einmal, zugegebenermaßen verkürzt und sehr zugespitzt, davon gesprochen, daß das Entscheidende in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts die Emanzipation der Kunst vom Geschmack war. Der Extremismus als das Bekenntnis zur Geschmacklosigkeit. Wobei die Definition von Geschmack freilich nicht unsere persönlichen Vorlieben meint, sondern einen destillierten Kanon aus Geschichte in allen ihren Brüchen.
Eine maßlose Entwertungswut nach zu vielen Bildern, die sich am Ende gegenseitig annulieren.

Es ist ja in der Vergangenheit Müller wie einigen anderen, bevorzugt ostdeutschen Künstlern, immer wieder mal ihr Pathos vorgeworfen wurden. Quasi Pathos versus Moderne. Als müßte man sich schämen, in der Freiheit auch die Verluste zu erkennen. Denn die Arbeit am Pathos ist nicht allein nur Trauerarbeit. Sie sucht nach Sinngebung, genauso wie sie antizivilisatorische Gegenbewegungen evoziert. Wenn wir an den Umständen zu zerbrechen drohen, benötigen wir den Halt fern von Ideologien oder gesellschaftlicher Grundkompositionen. Das kann Kunst leisten. Was wir als Betrachter sehen, läßt sich auch interpretieren. Sehen, sagt Goethe, ist nichts ohne Denken.

Es ist bei größerer Betrachtung also kein Widerspruch, lieber Gerhard Kurt Müller, wenn in unseren Zeiten das eigentlich moderne nicht oder doch nur sehr unzureichend erkannt wird und das etwas geistfreiere, marktkonformere, marketingtaugliche, serielle, geschmacksfernere, aber „witzige“ gefeiert wird. Denn alle sog. modernen Gesellschaften modern (Verwesen) auch schon ein wenig und produzieren ganz nebenbei den Humus für spätere Gesellschaften.
Dennoch, und dazu bin ich ja wohl eingeladen worden, ist es auch mir in den vergangenen Jahren als Bürgermeister nicht gelungen, Ihnen zumindest in Leipzig den Rang zurück zu geben, der Ihrer Kunst angemessen ist. Selbstverständlich habe ich mich darum bemüht. Nach Hegel anerkennt der freie Mensch zwar gern, „was groß und erhaben ist, und freut sich, daß es ist“, aber in freien Gesellschaften kann freilich auch niemand ihn zu solchen Anschauungen und Erkenntnissen zwingen.

Heute feiern wir den von Ihnen eingeschlagenen künstlerischen Weg entgegen Zeitgeist und Geschmacklosigkeit, wenn man so will. Denn morgen könnten die Zeugnisse dieses Weges uns unsere vergangenen Niedrigkeiten zeigen. Große Kunst hat noch immer alle wechselnden Gesellschaftsformen überdauert. Nützt Ihnen vielleicht nix, ist aber wahr.

Michael Faber, 2016
Begrüßungsrede anlässlich der Eröfffnung der Ausstellung zum 90. Geburtstag von Prof. Gerhard Kurt Müller, in den Räumen der Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung, Leipzig, am 1. Oktober 2016.

Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Michael Faber

Dr. Dieter Gleisberg
GERHARD KURT MÜLLER - LA GRANDE GUERRE

Gerhard Kurt Müller - „La Grande Guerre“. Der Zyklus der Zeichnungen zur Henry Barbusse „Le Feu“
Rede zur Ausstellungseröffnung und Buchvorstellung, Leipzig, 14.3.2014



Wer derzeit bei Amazon das Stichwort Erster Weltkrieg eingibt, erhält in Sekundenschnelle Hunderte von Angeboten neueren oder jüngsten Datums. Auch die Medien haben ihn längst entdeckt. „Der Krieg kehrt in die Gegenwart zurück“, konstatierte Ernst Piper in seiner Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges. Dessen Ausbruch vor 100 Jahren ist der äußere Anlass für diese Flut von Dokumentationen und Analysen. „La Grande Guerre“ nennen ihn die Franzosen und die Briten in ihrer Sprache ebenso. Auch der Berliner Historiker Herfried Münkler gab seiner voluminösen Aufarbeitung den Titel „Der große Krieg“. Dieser löste radikale Umbrüche aus, die bis heute nachwirken. Friedrich Engels hatte sie früh bis ins Detail vorhergesagt. Aber alle Warnrufe und Friedensappelle konnten die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nicht aufhalten. Erst mit seinem Beginn endete laut Eric Hobsbawm das „lange 19. Jahrhundert“, das schon mit der Französischen Revolution angebrochen sei. Was deutlich macht, wie wenig sich Geschichte um Jahrhundertgrenzen schert. Und wieviel Metaphysik dem Säkulargedenken innewohnt, das unsere Erinnerungskultur maßgeblich prägt.
Wie auch immer: Der Erste Weltkrieg mag das vorletzte Jahrhundert besiegelt haben, aber er ist aus dessen Schoß hervorgegangen. Wäre er doch undenkbar ohne die mit der Industrialisierung entstandenen Potenzen und Interessen. Nur auf ihrer Basis konnte die „Materialschlacht“ dem Ersten Weltkrieg so sehr zum Verhängnis werden. Der Kampf Mann gegen Mann war nicht ausgeschaltet, aber sekundär, gemessen an dem Desaster, welches neue Waffen wie Großgeschütz, Maschinengewehr, Minenwerfer, Panzer, U-Boot, Luftwaffe und nicht zuletzt das Giftgas hinterließen. Sie anonymisierten die Soldaten zum „Menschenmaterial“ – der Begriff gilt aus gutem, nein schrecklichem Grund als „Unwort des 20. Jahrhunderts“. Im „Trommelfeuer“ dieses Krieges gingen Millionen unter – und wurden Millionen verdient. Rasch verflog daher auf allen Seiten die anfängliche Euphorie.
In der Ausgeburt eines fanatischen Trommlers, der Unerfahrene betört und die Welt in Brand und Panik setzt, hat Gerhard Kurt Müller der Furie und Infamie des modernen Krieges vielschichtige Gestalt verliehen. Seine Trommel schürt ein Feuer, das mit jedem neuen Krieg grausamere Züge annahm.
Nach antikem Mythos befand sich das Feuer ursprünglich im Alleinbesitz der Götter. Erst Prometheus hat es ihnen entrissen und den Menschen gebracht. Das war, im Gewand der Göttersage, die Geburtsstunde der Zivilisation. Doch jenes Raubgeschenk trug stets ein Zwiegesicht. Denn mit dem Feuer verbindet sich außer dem Segen von Herd und Licht auch der Fluch von Flammenmeer und Krieg. „Feuer“ lautet der übliche Schießbefehl. „Le Feu“ – „Das Feuer“ – nannte Henri Barbusse auch vielsagend seinen Roman, der bereits mitten im Ersten Weltkrieg schonungslos dessen Schrecken enthüllt, verfasst im Aufruhr des Gewissens anhand eigener Tagebücher und Briefe. Denn bis zum Ruin seiner Gesundheit hatte der Franzose freiwillig das Martyrium der einfachen Soldaten geteilt. Nicht das Kampfgeschehen steht in dem Buch im Vordergrund, vielmehr das ganz und gar unheroische Ausgeliefert- und Überfordertsein der fast täglich dezimierten Truppe in den Schützengräben, das erbärmliche Hausen und Verkommen „in den Eingeweiden der Erde“. Apokalyptische Bilder sind heraufbeschworen, die unvermindert verstören und empören. Übersetzt in 60 Sprachen, hat „Le Feu“ bis heute an Mahn- und Appellkraft kaum verloren.
Wer sich also in Wort oder Bild solidarisch auf dieses Buch bezieht, beweist damit sein klares Engagement. Es wird am meisten bei Menschen überzeugen, die das Erlebnis eines Krieges selbst zu Kriegsgegnern erzog und die diese Gesinnung in ihren Werken aufrüttelnd bekennen. Im hohen Grade gilt das für die Farbzeichnungen, die das Buch erschließt, dessen Premiere uns hier vereint. Von der nun schon zehn Jahre bestehenden Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung herausgegeben, von der Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat gemeinsam mit dem Leipziger Institut Français gefördert und im verdienstvollen Passage-Verlag gestaltet und hergestellt, setzt es unter den vielen Publikationen über den Ersten Weltkrieg einen ganz eigenen, unverwechselbaren Akzent.
Ein Schwarzbuch schon vom Einband her, schwelgt es freilich nicht in Fakten, sondern macht die Hölle und den Widersinn des Krieges sichtbar mit den Mitteln und im Namen der Kunst. Doch bei aller Meisterschaft der Strich- und Pinselführung treten lukullische Augenfreuden gewollt hinter jenem Ziel zurück, das der Schöpfer dieser Werke in die Worte fasste: „Ich mache den absurden Versuch, gegen die Vergesslichkeit und das Vergessenwerden anzugehen.“ Das Selbstverständnis von Gerhard Kurt Müller kulminiert in dieser Aussage. Ihre Glaubwürdigkeit im Bild beruht auf dem kreativen Zusammenspiel von Reife und Disziplin der Formsprache mit kraftvoller Imagination. Technisch inspiriert von Henry Moores Shelter Drawings, stehen Müllers Mahnbilder äußerlichem Naturalismus ebenso fern wie jeglichem Nationalismus. Auch wird durch die innere Monumentalität und Würde, die dieser vielseitige Maler-Bildhauer seinen Gestalten noch in den schockierendsten Situationen verleiht, das Geheimnis und die Majestät des Todes nirgends angetastet.
Henri Barbusse war Gerhard Kurt Müller unter dem psychischen Druck selbsterfahrener Drangsal über Jahrzehnte hinweg Kamerad und Verbündeter im Geiste. Wie zum Beweis, dass seine früh erwachte Frankophilie keineswegs allein auf Kunstrespekt zurückzuführen ist. Parallel zu Alfred Jarrys skandalumwitterter Groteske „König Ubu“ las der grüblerische Künstler auch „Le Feu“ niemals nur als historisches Dokument, vielmehr mit untrüglichem Gespür für seine brennende Aktualität. Denn von den Dramen, die darin geschildert sind, sieht sich die Menschheit längst noch nicht befreit. Für den Ruf „Nie wieder Krieg!“ am Ende des Romans, der Millionen aus den Herzen spricht, sind profitgierige Brandstifter und Völkermörder noch immer taub. Deshalb streben diese Bilder auch weit über buchgebundene Illustrationen hinaus. Müllers oft sinnbildhaften Wiedergaben sind, jede für sich sowie in ihrer Gesamtheit, herausfordernde Menetekel und Mementos eines Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts, der seinen künstlerischen Weg, erst in der Lebensmitte endgültig gefunden, mit exemplarischer Konsequenz beschritten hat, hellwach und unbestechlich.
Gerhard Kurt Müller war 17 Jahre alt, als ihn Nazideutschland in den Zweiten Weltkrieg hetzte. Und er war um die 77, als er nahezu ein Menschenalter später mit erstaunlicher Vehemenz die Serie der Aquarellzeichnungen zu „Le Feu“ schuf, denen bereits 1975 eine Folge von Holzschnitten vorangegangen war. Wider alle Vernunft und Warnungen war der Zweite Weltkrieg zugelassen worden. Er sollte an Schock und Schrecken seinen Vorgänger noch bei weitem übertreffen. Die bitteren Erfahrungen an der Front und als Gefangener in prägenden Entwicklungsjahren blieben für Müller kein beiläufiges Intermezzo, sondern wurden zum Urtrauma seines Fühlens und Denkens, das ihn noch nach Jahrzehnten antrieb und die Kraft verlieh, jene Blätter zu schaffen, mit denen das Buch konfrontiert. Sie entstanden parallel zu einer Vielzahl von Gemälden und Bildwerken mit analoger Aussage und Tendenz. Man spürt in jedem Blatt die ungeheure Anspannung, den unausweichlichen inneren Zwang und Auftrag zur vermächtnishaften Botschaft. Zugegeben: Es wäre fragwürdig um unsere Kunst bestellt, brächte sie nur derartige Bilder hervor. Aber noch weit bedenklicher stünde es um sie, ließe sie es an solchen Werken fehlen!
Gerhard Kurt Müller weiß natürlich, dass Bilder Waffen nicht zum Schweigen bringen. Aber ihn leitet auch die feste Überzeugung, dass mit jedem Schweigen über das Unheil, welches Kriege stiftet, dieses Unheil wächst. Denn es gibt kein Vorbei an der Erkenntnis John F. Kennedys: „Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg setzt der Menschheit ein Ende.” Das Feuer des Krieges verwandelt Müller deshalb gleichsam in die Flammen des Fanals. Das reiht ihn in die eindrucksvolle Phalanx jener Meister ein, die das Elend der Kriege in ungeschminkte Bilder bannten – von Callot oder Goya bis zu Otto Dix oder Pablo Picasso, dessen Jahrhundertmeisterwerk „Guernica“ zum Kriegsmahnmal schlechthin geworden ist. Nicht vergessen sei auch Müllers Altersgefährte Bernhard Heisig. Beide gehören, obwohl Müllers Anteil oft verschwiegen wird, neben Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke zu den Vätern der „Leipziger Schule“. Letztlich aber war jeder von ihnen Einzelgänger, im Feuer oft schmerzhafter Auseinandersetzungen gezwungen, zu sich selbst zu finden, um im Zusammenwirken von Ehrgeiz mit überragendem Talent zur faszinierenden Meisterschaft aufzusteigen. Auf welche Höhe sie Müller führte, wird jeder Freund und Kenner der Zeichenkunst bewundern. Sein Strich und Pinselzug ist durchweg großzügig und zupackend, frei von Geschwätz und spießiger Befangenheit, dabei sensibel und behutsam, immer im Drang nach der gerafften und gestrafften, der elementaren Form. Das Formlose wird in Form gebracht, das Unsägliche gesagt, das Schreckliche unerschrocken vor Augen gestellt. Alles Kleinkarierte und -schraffierte ist ihm fremd. Man könnte oft an Hieroglyphen denken, wäre da nicht die unverfälschte Frische handschriftlicher Unmittelbarkeit. Wir sehen ihm beim Zeichnen förmlich zu, erleben den Prozess der Bildgeburt, der schmerzhaft sein kann, aber auch Befreiungsschlag. Es ist ein Zeichnen, das Zeichen setzt! Und Maßstäbe!
Möge das Buch die Aufmerksamkeit erwecken, die es unbedingt verdient. Und möge es dem großen Künstler, von dessen bis ins hohe Alter ungebrochener Schöpferkraft es Zeugnis ablegt, viele neue Freunde und Bewunderer zuführen!

Dr. Dieter Gleisberg, 2014
Gerhard Kurt Müller - „La Grande Guerre“. Der Zyklus der Zeichnungen zur Henry Barbusse „Le Feu“
Rede zur Ausstellungseröffnung und Buchvorstellung, Leipzig, 14.3.2014

Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Dr. Dieter und Ruth Gleisberg, Braugartenweg 8, 04600 Altenburg, dr.gleisberg@t-online.de

Siegfried B Schäfer
PORTRAIT
Versuch zur Entstehung des "Skandalbilds", Bildnis eines Offiziers der Kasernierten Volkspolizei, 1953

Seit Ende Januar hatte es nicht geschneit, schmutziger Schnee häuft sich noch in den schattigen Ecken im Hof, nur selten eilen Handwerker zwischen ihren Werkstätten in den Kellern der Akademie, steife Wehrmachtsmäntel frierend übergestülpt. Die klirrende Kälte malt noch ihre Eisblumen an die Außenränder der großen Atelierfenster, aber drinnen, unter dem Dach der Alma Mater in der Stadt des großen Klinger, ist es warm.

Die Augen des jungen Künstlers prüfen Komposition und Maß, sie folgen dem ausgetreckten Arm hin zum langstieligen Pinsel, lotrecht gehalten zur Knopfleiste der nagelneuen Uniform seines Modells. Seit zehn Tagen schon steht ihm der Offizier gegenüber, von hoher Stelle abkommandiert, um der Akademie dienlich zu sein. Die paramilitärische, eben für den neuen Staat gegründete Kasernierte Volkspolizei unterwirft sich den schönen Künsten; der Offizier der Staatsmacht steht allein für ihn, posiert, wie der Künstler es verlangt!

Heute geht es darum, das grau-grünlich schillernde Uni¬form¬tuch in Öl auf die Leinwand zu bringen. Der Bildaufbau, die für Müller immer an erster Stelle stehende Form, ist gelöst. In Jean-Auguste-Dominique Ingres' Bildnis des Bürgers Louis-Francois Bertin hatte er den Ausdruck einer Person gefunden, die das Selbstbewusstsein einer neuen Klasse verkörpert. Die Pose gab ihm Ingres' Zeichnung vom stehenden Niccolò Paganini – die galante Körperdrehung über rechts hin zum Betrachter war im Bild gebannt; die soldatische Strenge aber hatte er der Figur erhalten, gerade so, wie es sein Gegenstand erforderte. Doch hat der Künstler seinem Offizier ein seitenstarkes ziviles Buch in die Hand gegeben und ihn damit zu einem Manne des Geistes enthoben, zu einem von der Kunst beherrschten Menschen! – Auf einer Tischkante im Vordergrund würde er noch einige handschriftliche Notizen platzieren und diesem Gedanken weitere Kraft geben…

Die satte Farbe drückt sich jetzt weich durch das feste Haar des Gussow-Pinsels. – Viele Stunden hatte Müller im Leipziger Museum vor dem Porträt des Kapellmeisters Gungl die Leibl'sche Malkunst an Trübners Gemälde studiert und versucht, jene Stofflichkeit in die Malhaut zu bringen! Bei seiner kleineren Kopie des Trübner-Gemäldes war es schließlich prachtvoll gelungen; gern erinnert er sich an das malerisch bewältigte seidig schil¬lernde coelinblaue Ordensbändchen auf Gungls schwarzem Bratenrock. – Hier nun gilt es, das Erlernte auch unter dem Dach der großen Altvorderen zu wiederholen – und es gelingt!

Dieses kleine Genrebild mag eine Erläuterung dafür sein, warum Gerhard Kurt Müller auch in Zeiten, als ihm die Hochschuladministration übel mitspielte, als ihn Kollegen und Künstlerfreunde ausgrenzten, nie die Loyalität gegenüber der HGB, nie die Achtung vor seinen Kollegen verloren, sie später auch nie aufgegeben hat. Zuviel hatte ihm die Akademie, hatte ihm die Kunst gegeben – und sie gibt es ihm bis heute.

Doch in diesem Februar 1953 geht es dem sechsundzwanzigjährigen Aspiranten der Hoschschule für Grafik und Buchkunst Leipzig allein um sein künstlerisches Handwerk; es geht ihm um die Kunst, die ihn so respektvoll aufgenommen, ihn gewärmt und gefüttert, ihm nach Krieg und Gefangenschaft eine Bleibe, ja ein Zuhause gegeben, ihn in den Kreis ihrer Meister aufgenommen hat. Noch ist er sich seines Namens nicht bewusst, sucht nicht nach kenntlichmachenden Zusätzen, wie es andere Müllers, Schmidts oder Mayers beispielhaft getan haben. – Später würde er sich schlicht auf seine in ihrer Kan¬tigkeit so kraftvollen Vornamen – Gerhard, Kurt – stützen, und sie schließlich zum machtvollen G K M verdichten.

Das Bildnis eines Offiziers der kasernierten Volks¬polizei ist fertig, gut gemalt und gefirnisst. Wenige Tage sind es nur bis zum Abgabetermin, das Venezianer Terpentin will in der kalten Luft nicht trocknen. Noch nassglänzend wird er es selbst, unter dem Spott misslauniger Kommilitonen, auf einen zweirädrigen Polstererkarren binden und zum Leipziger Verbandsbüro schieben; Einlieferung im letzten Moment.

Das Bild wird auf Wunsch von Akademie-Rektor, Professor Kurt Massloff (der als Jury-Mitglied die Auswahl mitbestimmt) ab dem 1. März 1953 auf der III. Deutschen Kunstausstellung in Dresden neben weiteren Gemälden seiner Studenten die Qualität und künstlerische Kraft demonstrieren, zu der die Leipziger Hochschule unter ihrem neuen Rektor fähig ist. Selbst hatten er und Kurt Magritz mit einer straffen Kunstdoktrin bereits die ideologische Führung übernommen. Dies nun ist der Paukenschlag, mit dem der konkurrierenden Dresdner Akademie auf deren angestammtem Terrain der Malerei die Stirn geboten, und der Anspruch auf die Vorherrschaft der HGB ausgerufen werden würde. Der Coup gelingt! - Doch nur im ersten Moment…

Und Müllers Offizier, wegen seiner Komposition und meisterlichen Malweise zu Beginn der Ausstellung gefeiert, mutiert im Ideologie- und Machtkampf zum Skandalbild: "Faschistische Tendenzen an der Akademie in Leipzig!", so tönt es aus dem Munde der Lea Grundig in Dresden.
In der Folge wird der junge Künstler auch persönlich diffamiert. Eine schutzbietende Stellungnahme auch seines Rektors bleibt aus. – Enttäuscht und voller Bitterkeit zerstört er sein Offiziersbild, verbrennt es Wochen später auf dem Galgenberg über Liebertwolkwitz; ein Akt nur vermeintlicher Befreiung.


Siegfried B Schäfer, 2015
Skizze. Aufgeschrieben nach dem öffentlich geführten Künstlergespräch mit Gerhard Kurt Müller, Gerhardt-Kurt-Müller Stiftung Leipzig, am 13.3.2015, über die frühen Schaffensjahre. (11.11.2015)

Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
© Siegfried Schäfer, Düsseldorf, mail@kunst-archive.net

Dr. Dieter Gleisberg
DIE LEIPZIGER SCHULE

"Gerhard Kurt Müller - Der Künstler und die Leipziger Schule: Wegbereiter – Verbündeter – Zeitgenosse?“. Vorrede zum Dialog mit Dieter Gleisberg in der Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung am 18. März 2016

„Der Kopf eines festen Menschen. Der häärlich lichter werdende Schädel mit einem StoffDeckelSchutz bedacht, aber so, als wär’s nicht ganz ernst gemeint. Dafür inmitten der sehr prüfende Blick, von Erfahrung verwittert, Misstrauen hat sich angehängt. Ein unsichtbares Leid nistet hinter den Augen (oder noch weiter). Das Leben ist nicht abgegolten, es dauert und will sich noch immer neu und täglich beweisen wie eines Jungen Lust am Spiel. In manchen Momenten sieht er aus wie ein Fußballtrainer. In anderen wie ein Lear.“
So lautet eine feinfühlige Porträtanalyse, die Manfred Jendryschik kurz und bündig „Foto“ nennt. Wen es darstellt, muss hier in diesen Räumen kaum erläutert werden. Das beschriebene Lichtbild diente als Frontispiz des 2011 Gerhard Kurt Müller gewidmeten Sammelbandes unter dem vielsagenden Titel: „Man darf sich nichts erlassen“. Folgen wir einmal dieser Maxime und erlassen ihm auch heute Abend nichts, sondern versuchen wir dem Unverwechselbaren in seinem 90. Lebensjahr einige Beweg- und Hintergründe zu entlocken über jenes Phänomen, das als „Leipziger Schule“ zum Begriff geworden ist. Immerhin endet der biografische Anhang seiner vor zehn Jahren herausgebrachten Werkmonografie mit dem Fazit: „Im lokalen Sinne gehört M. zur Leipziger Schule.“ Mehr noch, müssen wir ergänzen: Er gehört, obwohl oft unerwähnt, nicht allein zu ihren Vätern, sondern auch zu den allerletzten noch unter uns weilenden Zeitzeugen dieser École de petit Paris – um es, auf Goethes Hommage an Leipzig als „klein Paris“ anspielend, im geliebten Französisch des Frankophilen Müller auszudrücken.
Erlauben Sie zunächst einen einführenden Vorspann, allerdings ohne Anspruch auf das Erfassen aller denkbaren Konturen und Aspekte. In der Kunstgeschichte traten immer wieder Kräfte hervor, die schulbildend wirkten – erinnern wir uns nur an die Werkstätten von Cranach oder Rubens. Oft wurden Form- und Gedankenwelt auch durch Künstlerbünde geprägt – von den Nazarenern bis zur Dresdener Brücke. Nicht zuletzt beanspruchten die Akademien Maßstäbe setzende Autorität. Manche erreichten überregionales Ansehen allerdings nur auf ihrem Spezialgebiet wie die seit Anbeginn auf den Dienst am Buch festgelegte Leipziger Kunsthochschule. Doch das sollte sich unverhofft so radikal ändern, dass man inzwischen darauf dringen muss, nicht aus den Augen zu verlieren, wie überzeugend sich in Leipzig Grafik- und Buchschaffen, Plakatkunst und Fotografie weiterhin zu behaupten wussten. Wenn auch in der öffentlichen Wahrnehmung nunmehr im Schatten der Malerei, die seit den sechziger Jahren offizielles Lehrfach wurde an der dennoch am geläufigen Namen festhaltenden Hochschule für Grafik und Buchkunst.
Der Begriff „Leipziger Schule“ war plötzlich in aller Munde, ohne dass zuverlässig zu sagen wäre, wer ihn aufgebracht hatte. Rolf Richter nannte Ende des vergangenen Jahres in einem Nachruf Günter Meißner als Urheber. Wohlgemerkt: der alten Leipziger Schule, aus der in den neunziger Jahren jene Bewegung hervorging, die unter dem Label „Neue Leipziger Schule“ weltweit Furore machte. Das könnte, unter Federführung von Gerd Harry Lybke, analog zur Nouvelle École de Paris geschehen sein, womit sich die überwiegend abstrakten Maler der französischen Kunstmetropole nach dem Zweiten Weltkrieg von den Klassikern der Moderne abhoben, die in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts zur École de Paris zählten. Es waren vielfach Ausländer – von Picasso, Modigliani oder Chagall bis zu Soutine, Dalí oder Max Ernst. Wie auch relativ wenige, die unter dem Dach der „Leipziger Schule“ geführt werden, an der Pleiße geboren wurden. Weder Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke noch Günter Richter, Kurt Dornis, Dietrich Burger, Heinz Zander, Volker Stelzmann, Arno Rink, Ulrich Hachulla, Hartwig Ebersbach, Sighard Gille, Frank Ruddigkeit, Wolfgang Peuker, Rolf Kuhrt, Peter Sylvester, Doris Ziegler, Karl-Georg Hirsch, Rolf Münzner oder Baldwin Zettl erblickten hier das Licht der Welt. Gerhard Kurt Müller bildet da fast die Ausnahme neben Günter Thiele, Arnd Schultheiß, Erich Kissing oder Peter Schnürpel. Außer Gerd Wunderlich stammen die Typografen Egon Pruggmayer, Albert Kapr, Walter Schiller oder Irmgard Horlbeck-Kappler ebenfalls von außerhalb. Auch unter den der Neuen Leipziger Schule Zugerechneten sind zwar Neo Rauch, Tilo Baumgärtel oder Hans Aichinger gebürtige Leipziger, nicht aber Tim Eitel, Michael Triegel, Christoph Ruckhäberle, Matthias Weischer oder Annette Schröter. Überdies wuchs Neo Rauch in Aschersleben auf nach Verlust seiner Eltern durch das Leipziger Zugunglück im Mai 1960, an das sich mancher wieder erinnert haben mag angesichts der kürzlichen Katastrophe bei Bad Aibling.
Bei allen Unterschieden zwischen der ‚alten‘ und Neuen Leipziger Schule darf keineswegs verkannt werden: Es gab niemals eine absolute Stunde Null, in der die jüngere die vorherige schlagartig außer Kraft setzte. Haben doch nicht wenige Repräsentanten der ursprünglichen Leipziger Schule zahlreiche ihrer Hauptwerke erst nach der Wende geschaffen. Was nicht zuletzt für Gerhard Kurt Müller gilt sowie seine namhaftesten Schüler Karl-Georg Hirsch, Rolf Münzner und Baldwin Zettl. Auch Bernhard Heisigs, Rolf Kuhrts oder Volker Stelzmanns Spätschaffen ist, obwohl nun außerhalb von Leipzig entstanden, alles andere als Abgesang. „Wer vor der Wende gut war, war es auch hinterher“, soll Mattheuer klargestellt haben. Auch diese noch immer nicht völlig verebbte Kontinuität ist ein bemerkenswertes Phänomen. Ein bloßer „Mythos“, wie der Untertitel von Claus Baumanns Rückschau „Es war einmal …“ vermuten ließe, war die „Leipziger Schule“ also sicher nicht.
„Das Wunder an der Pleiße“, so Helmut Richter über ihr Entstehen im Katalog „10 Jahre Kunstverein Panitzsch“, wäre auch kaum denkbar ohne das geistige Umfeld, das trotz aller ideologischen Bandagen in der Messe-, Buch-, Musik-, Theater-, Universitäts- und Sportstadt Leipzig herrschte. Schlug hier doch auch das Herz der „Sächsischen Dichterschule“. Die legendäre „Missa nigra“ war sogar Gemeinschaftswerk der „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“ mit dem Maler Hartwig Ebersbach. Ebenso wenig sollte vergessen werden, worauf schon Helmut Richter hingewiesen hatte, „dass zeitgleich eine Reihe kleinerer Galerien […] der anschwellenden Kreativität zusätzlich Öffentlichkeit und Markt verschafften.“ Er dachte dabei wohl an die vielen ehrenamtlich agierenden Galerien, allen voran die rührige, von Hannelore Röhl geführte im Leibniz-Klub in der Elsterstraße. Aber auch die durch Hans-Peter Schulz zur Instanz erhobene Verkaufsgalerie am Sachsenplatz sei hervorgehoben, in der die unvergessliche Buch- und Kunsthandlung Kurt Engewalds – von Arnd Schultheiß als „Kulturoase“ gepriesen – eine würdige Nachfolgerin fand. Auch das Leipziger Museum der bildenden Künste und das Altenburger Lindenau-Museum sollten als engagierte Begleiter der hiesigen Kunstprozesse nicht unterschätzt werden neben der von Rainer Behrends geleiteten Kustodie der Universität oder der von Christine Rink betreuten Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Seit den neunziger Jahren nahmen sich dann vor allem unter Claus Baumann die Kunsthalle der Sparkasse Leipzig sowie die von Klaus Eberhard ins Leben gerufene Sammlung im Hotel „Leipziger Hof“ zielstrebig der „Leipziger Schule“ an.
Angesichts wachsender Widersprüche und Repressionen in der DDR erwachte in Leipzig ein kritisches Problembewußtsein, das sich – nicht nur – in der bildenden Kunst ein Ventil schuf, häufig chiffriert im Gewand der Mythologie. Polarisierend verweigerte schließlich eine jüngere Generation vor allem seit den achtziger Jahren immer kategorischer mit dem Staat auch ihren weitgehend etablierten Lehrern die Gefolgschaft, wofür der 1. Leipziger Herbstsalon 1984 ebenso ein alternatives Zeichen setzte wie Judy Lybkes Galerie EIGEN+ART, die 1983 illegal in seiner Dachwohnung begann. Die ohnehin in Ziel und Stil nie einheitliche „Leipziger Schule“ triftete nun mehr und mehr auseinander. Wozu auch der immer häufigere Wechsel bedeutsamer Talente wie Volker Stelzmann, Hans-Hendrick Grimmling, Günter Firit oder Lutz Dammbeck in die Bundesrepublik beitrug. Auch die Ankäufe durch westdeutsche Sammler wie Peter Ludwig forcierten Spannungen durch ein wachsendes Konkurrenzdenken als Vorspiel auf die Situation nach 1990. Dass kaum ein Schlüsselwerk Gerhard Kurt Müllers in die Kollektion des Sammlerfürsten überging, lässt sich nur schwer nachvollziehen. Noch unverständlicher aber bleibt der Verzicht seiner Vaterstadt nach der vor zehn und fünf Jahren versäumten Gelegenheit ihm nun zum 90. Geburtstag endlich eine längst überfällige repräsentative Ausstellung auszurichten.
Von einer „Leipziger Schule“ sprach man übrigens schon einmal in den fünfziger Jahren, freilich sehr bald abschätzig angesichts der unerfreulichen Verhältnisse, die Kurt Massloff und Kurt Magritz damals als sowjetgläubige Dogmatiker heraufbeschworen hatten. Auch als die Benennung zwei Jahrzehnte später erneut um sich griff, fand sie zunächst keineswegs ungeteilten Beifall. Mit scharfer Polemik warf zum Beispiel Dietmar Eisold 1977 Renate Hartleb vor, in ihrer Übersicht „Künstler in Leipzig“, die „zerknitterte Pappschachtel mit der Aufschrift ‚Leipziger Schule‘ “ wieder aus der Versenkung geholt zu haben. Dabei hatte sie nur festgestellt: „Seit der Leipziger Kunstausstellung des Jahres 1972 gilt es als sicher, daß Malerei und Grafik dieses Bezirkes sich innerhalb der Kunst der DDR einen führenden Platz erobert haben. Wenngleich der bald gebrauchte Begriff „Leipziger Schule“ zunächst mit Vorsicht und sogar mit Mißfallen aufgenommen wurde – nicht zuletzt von den damit bezeichneten Künstlern –, so ist doch das eigene Profil der Malerei und Grafik in Leipzig gegenüber Kunstlandschaften wie Dresden, Berlin und Halle unbestreitbar geworden.“ Dieser Überzeugung verhalf dann 1977 Günter Meißners materialreiche Monografie über die „Leipziger Künstler der Gegenwart“ endgültig zum Durchbruch, was Lothar Lang im Folgejahr veranlasste, der „seit 1972 so oft zitierten, bejubelten und beschimpften Leipziger Schule“ ein ganzes Kapitel seines Buches „malerei und grafik in der ddr“ einzuräumen. Aus westdeutscher Perspektive konstatierte Uwe M. Schneede 1982 sogar im Katalog der Ausstellung „Zeitvergleich“: „Leipzig ist von nun an das Zentrum der Kunst in der DDR.“
Schon früh wurde aber auch erkannt, dass die „Leipziger Schule“ weder ein homogenes programmatisches Gepräge aufwies noch gleichzusetzen war mit der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Dennoch gingen von ihr stets die stärksten Impulse aus. So war es denn auch keineswegs abwegig, wenn sie sich inmitten der Umbrüche und Wirren von 1989/90 in Westberlin, Oberhausen und Hannover unter der bivalenten Flagge „Leipziger Schule“ präsentierte.
Ein Jahr zuvor, noch vor der Wende, widmete Renate Hartleb im Katalog der Jubiläumsausstellung der HGB 1989 dem Terminus „Leipziger Schule“ eine grundlegende Analyse, nachdem sie sich schon 1987 in der „Bildenden Kunst“ damit streitbar auseinandergesetzt hatte. Sie deutete ihn als „Synonym für Malerei mit Zeitgeist und intellektuellem Anspruch“. Das klang freilich recht allgemein, aber in ihrer Rückschau zitierte sie dann Tübke, der zwar 1973 gemeinsam mit Heisig, Mattheuer und Hachulla in der „Leipziger Volkszeitung“ die Existenz einer „Leipziger Schule“ noch verneint hatte, dieser wenige Monate danach weitgehend positive Kriterien attestierte: „Betonung der zeichnerischen Komponente des Bildnerischen, Pflege des Zeichnerischen über¬haupt, Detailfreudigkeit, Aufmerksamkeit fürs Hand¬werkliche, Einbeziehung von Allegorischem, von Symbolen, Beziehung zur Literatur („Literarisches“), Kristallinisches und Überhöhung, scheinbares Anknüpfen an Verismus und Neue Sachlichkeit, auch Manierismus, enges Verhältnis zum Erbe überhaupt usw.“
Damit fielen Stichworte, die zumindest einen der beiden Hauptstränge der „Leipziger Schule“ kennzeichneten. Doch neben der veristisch-zeichnerischen Variante hatte sich im Sog von Heisigs Rückbesinnung nicht nur auf Max Beckmann, sondern auch Corinth und Kokoschka zugleich eine auf malerische Verve und Expressivität setzende Richtung ergeben, die Hartwig Ebersbach, Frank Ruddigkeit, Sighard Gille, Walter Libuda, Gero Künzel, Johannes Heisig oder auch Hubertus Giebe auf sehr persönliche Weise aufgriffen und zum Teil nach Berlin oder Dresden exportierten. So wie es zwischen den Kunstzentren gleichsam Emissäre gab wie Günter Horlbeck, der in Dresden eine Professur innehatte, während seine Frau in Leipzig lehrte. Beide offenbarten schon früh Tendenzen zu einer poetisch-phantasievollen, zur Abstraktion neigenden Bildsprache, wofür dann vor allem Namen wie Wolfgang E. Biedermann, Günter Huniat, Gil Schlesinger oder Frieder Heinze stehen sollten. Daher hatten Tino Heim und Paul Kaiser keineswegs so Unrecht, als sie 2009 in dem gewichtigen Begleitbuch zur Retrospektive über die „Kunst in Leipzig seit 1949“ den Terminus „Leipziger Schule“ als „Begriffsgehäuse“ interpretierten, „in dem man ganz heterogene Positionen unterbrachte.“ Christoph Brockhaus meinte gar vor einigen Jahren, sie stelle sich heute „mehr als Wunschkonstruktion heraus denn als Schulbildung historischer Art“.
Als die „Leipziger Volkszeitung“ zu ihrem Jahrhundertjubiläum 1994 eine umfangreiche Sonderausgabe herausgab, ließ sie Günter Meißner, Arno Rink und Neo Rauch über die „Leipziger Schule – und was bleibt“ diskutieren. Meißner traf dabei die Feststellung: „Was für mich nicht zuletzt noch heute ihre Daseinsberechtigung – außer der Formqualität – ausmacht: Sie hat durch wahrhaftes Zeitempfinden und die unspektakuläre, oft mythologisch verbrämte Enthüllung sozialistischer Phrasen das allgemeine Wendebewußtsein geschärft.“ Sofort konterte Rink: „Na Vorsicht. Wir wollen nicht vergessen, daß die „Leipziger Schule“ in erster Linie ein Ergebnis der sozialistischen Entwicklung war. […] Das Kritische stellte meist nicht das Prinzip in Frage, sondern machte den Prozeß glaubwürdiger, zielte auf Veränderungen.“
Inzwischen sind zwei weitere Jahrzehnte ins Land gegangen, die Anfänge der „Leipziger Schule“ liegen sogar mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Gerhard Kurt Müller, der mir vielleicht mit wachsendem Unbehagen zugehört hat, hat ihren Weg von Anbeginn miterlebt und mitbewirkt. So möge er uns denn nun aus seiner Perspektive und Erfahrung durch Auskünfte und Klarstellungen zu tieferem Verständnis verhelfen.

Dr. Dieter Gleisberg, 2016
Vorrede zum Dialog in der Gerhard-Kurt-Müller-Stiftung im Rahmen der Buchmesse Leipzig am 18. März 2016, "Gerhard Kurt Müller - Der Künstler und die Leipziger Schule: Wegbereiter – Verbündeter – Zeitgenosse?“.

Die Wiedergabe des Textes im Rahmen des Online-Werkverzeichnisses von Prof. Gerhard Kurt Müller erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors
© Dr. Dieter und Ruth Gleisberg, Braugartenweg 8, 04600 Altenburg, dr.gleisberg@t-online.de

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